Vom ABC- zum Amokschützen

1.6.2016, 13:01 Uhr
Vom ABC- zum Amokschützen

© Foto: Gabriela Knoch

„Erst ist er ein ABC-, dann ein Amokschütze“, sagt die Mutter. Die Angst um den fünfjährigen Sohn frisst sie auf; die Komplexität der Welt lässt sie scheitern. Das ist das Thema von „Terrorkind“. Rund 80 Stücke waren bei dem Dramatikerwettbewerb des Theaters in Zusammenarbeit mit der Leonhard-Frank-Gesellschaft eingereicht worden, das Thema lautete „Angstfrei“. An sich schon nahe gehend, gewinnt „Terrorkind“ an zusätzlicher Kraft durch Tim Stefaniaks zugespitzte, vom Hochdramatischen bis ins Slapstickhafte reichende Inszenierung.

Der Blog einer amerikanischen Mutter lieferte Karsten Laske die Inspiration zu seinem Drama. Die Bloggerin wittert im fünfjährigen Sohn einen potenziellen Amokläufer. Am Gehirn sei erkennbar, wer einmal ein Verbrecher werde, schreibt sie. Er habe den Blog, er habe diese Mutter gehasst, erzählt Laske. Mit „Terrorkind“ spürt er nun nach, wie eine Mutter zu einer solchen Frau werden kann.

Eine junge, alleinerziehende Mutter ist in seinem Drama völlig überfordert mit der Erziehung des Sohnes, mit den gesellschaftlichen Anforderungen. Dann wird sie – gefangen in einer Straßenbahn wie ein Fisch im Aquarium – Augenzeugin eines Amoklaufs. Bevor der Attentäter erschossen wird, kommt es zwischen ihm und der Mutter zum Augenkontakt. Von nun an sieht sie im eigenen Sohn einen künftigen Amokläufer und die Gewalt wie ein Geschwür aus dem Körper des Kindes wachsen.

Eine Rolle, zwei Akteure

Angelegt ist „Terrorkind“ dabei eigentlich als Ein-Personen-Stück; als Fließtext geschrieben verzichtet Laske auf eine Rollenzuordnung. Die Mutter spricht all jene Gedanken aus, die eine Mutter sonst nicht laut zu sagen wagen würde – und dies in einer sprachlichen Bildgewalt, die gleichsam schockiert und fesselt.

Regisseur Tim Stefaniak entscheidet sich in seiner ersten abendfüllenden Inszenierung für einen Kniff: Er lässt die Mutter nicht von einer, sondern zwei Frauen spielen. Manchmal sprechen sie synchron, bewegen sich wie choreographiert. Freiheit sei eine Illusion, sagt die Mutter. Sie befolge Anweisungen und Abläufe. Dann wieder streiten sich die Frauen – zwei oder noch mehr Facetten einer Persönlichkeit brechen heraus, tiefe innere Zerrissenheit, Widersprüchlichkeiten.

Mit Claudia Kraus und Christina Theresa Motsch agieren dabei zwei sehr unterschiedliche, im blastürkisen Kleidchen gleich gekleidete Frauen auf der Bühne. Beide punkten gleichermaßen mit Wandelbarkeit auf Knopfdruck, lassen tief in das Seelenleben einer Frau zwischen Überforderung und Wahnsinn blicken.

Dabei bewegen sie sich im weißen, steril-gefliesten Ambiente (Bühne Anika Wieners). Mehrere quadratische Hocker, ein Waschbecken und eine schwarze Maske mit übergroßen Augenlöchern dienen als Requisiten. Zusammengearbeitet hat das Regieteam zudem mit dem Musiker und DJ Jens Mahlstedt. Sehr gezielt untermalt er Emotionen mit Klangbildern.

Nein, mit gutem Gefühl verlässt man die Kammerspiele nach 80 Minuten seelischem Amoklauf nicht. Denn das Beklemmende und letztlich Herausragende der Inszenierung ist: So überzogen, so wahnsinnig Laskes „Terrorkind“-Mutter sein mag, spiegelt das Drama zugespitzt eben doch Situationen und Gefühle, Ängste und Gesellschaftszwänge, die sehr greifbar sind, doch meist unausgesprochen bleiben.

Weitere Vorstellungen: 5., 11.,18. und 28. Juni; 6. und 13. Juli.

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