Codes in der Kunst
Zum Pride Month: So queer war Dürer wirklich - Historiker gibt Einblicke
19.6.2024, 13:05 UhrAlbrecht Dürer wurde 1471 als Sohn eines Goldschmieds in Nürnberg geboren. Anstatt in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, zog er Zeichenpapier, Leinwand und Holztafel vor. Der soziale Aufstieg gelang ihm zunächst mit der Heirat der Patrizierenkelin Agnes Frey, die sich als Kunsthändlerin etablierte. Die Ehe blieb kinderlos.
Heute ist Dürer der weltberühmte Sohn der Stadt, der Künstler gilt als Aushängeschild der deutschen Renaissance. Auf Basis seiner soliden Ausbildung, zahlreicher Reisen, des Einsatzes der Druckgraphik und nicht zuletzt seines Strebens nach der perfekten Darstellung des menschlichen Körpers wurde er zu einem der erfolgreichsten Künstler seiner Zeit. Ruhm, Einfluss und Eitelkeit des Nürnbergers stiegen stetig.
Unter seinen Werken befinden sich auch viele Motive mit homoerotischen Anklängen: Halbnackte Männer werfen sich schmachtende Blicke zu, spielen Flöte, Voyeure starren auf gut gebaute Badende, Schwerter und Wasserhähne sind zweideutig vor Genitalien platziert. Der Historiker Reinhard Bröker ist diesem Phänomen in seinem Bildband "Dürer und die Männer – Eindeutig zweideutig" genauer auf den Grund gegangen. Und gibt spannende Einblicke:
Herr Bröker, immer wieder kommen Fragen nach Dürers erotischer Orientierung auf. Warum interessieren wir uns noch heute für die Sexualität eines Künstlers aus dem Spätmittelalter?
Reinhard Bröker: Zunächst spielen die erotischen Vorlieben eines Künstlers für die Relevanz seines Werks natürlich überhaupt keine Rolle. Trotzdem interessieren wir uns doch für Künstlerbiographien. Ein Hollywood-Star ist uns in vielerlei Hinsicht genauso fern wie das Spätmittelalter – aber viele finden es ganz offensichtlich spannend, was Stars (und Dürer gehört als einer der größten Künstler überhaupt eben auch dazu) in ihren Betten machen und gemacht haben.
Also: Welche Rolle spielte Homosexualität in Dürers Leben?
Bröker: Schwer zu sagen. Aber wenn man schon die Biographie bemühen will, dann ist auffällig, dass Dürer gerne in Badehäuser gegangen ist und dort mit "Gesellen" spielte. Wir wissen das sehr genau aus seinem Wirtschaftsbuch, das er während seiner niederländischen Reise am Ende seines Lebens geführt hat. Es handelt sich bei diesen Badestuben um Anlagen für hygienische sowie medizinische Anwendungen – und es gab auch schon so etwas wie "Spaßbäder" zum lustvollen Zeitvertreib. Wir wissen ebenso, dass es überall Badehäuser gab, in denen auch sexuelle Dienstleistungen angeboten und abgefragt wurden. Sie galten zu Recht als Verbreitungsort der damals grassierenden Syphilis, vor der Dürer nachweislich große Angst hatte. Ich glaube, dass er in diesen Etablissements unterwegs war und Geschlechtsverkehr mit gewissen "Gesellen" anbahnte, besonders über das Spiel.
Gibt es weitere Hinweise?
Bröker: Ja. Dürer hat wohl auch außerhalb der Badestube mit einer Art "Selfie" Eigenwerbung betrieben. Das sogenannte "Weimarer Selbstbildnis" zeigt ihn komplett nackt und mit genau ausgearbeiteten Geschlechtsteilen. Ich denke, er hat dieses Blatt interessierten Männern gezeigt, um zu visualisieren, mit was für einer Ausstattung sie rechnen können, wenn sie sich mit ihm einlassen. Zwanzig Jahre vor seiner Reise in die Niederlanden hat Dürer einen Holzschnitt angefertigt, der sehr vielsagend ist: Das "Männerbad". Es erscheint uns heute wie ein schwuler Szenetreffpunkt und ich trage in meinem Buch viele Details zusammen, die die These untermauern, dass auch damals das Wildbad auf der Insel Schütt ein Treffpunkt homosexueller Männer war.
Die Forschung kratzte bislang eher an der Oberfläche, eine konzentrierte Beschäftigung mit Dürers homoerotischen Andeutungen fand in den vergangenen Jahrzehnten kaum statt. Gibt es Berührungsängste?
Bröker: Jede Zeit blickt auf die Kunst mit eigenen moralischen und weltanschaulichen Kategorien. Das machen wir heute zwar in einem viel weiteren Spektrum, aber vom Prinzip her tun wir das immer noch. Wir erwarten – auch ganz aktuell – von Künstlern, dass sie sich moralisch angemessen (was immer das konkret heißt) verhalten oder sich zu dem in unseren Augen "richtigen" Regime bekennen, obwohl das für die Kunst natürlich überhaupt keine Rolle spielt. Über Dürer wurde schon zu Lebzeiten gemunkelt, dass er schwul sei, aber der offizielle Moralkodex war so stark, dass er den Blick auf homoerotische Aspekte in seinem Werk nicht zuließ. Kurioserweise reicht diese Zensur bis in die Gegenwart, obwohl man doch denken würde, dass sich heute niemand mehr ernsthaft davor scheuen müsste, homoerotische Aspekte in der Kunstwissenschaft auszusprechen.
Welchen Mehrwert bietet eine intensivere Auseinandersetzung mit Dürers homosexuellen Motiven?
Bröker: Meine These ist, dass wir viele Fragen, die wir zu etlichen Bildern Dürers haben, besser beantworten können, wenn wir Dürer eine homoerotische Ikonographie unterstellen. Ich habe den Ansatz verfolgt, dass Dürer in seinen Bildern Hinweise homosexueller Interaktion versteckt hat, die entdeckt und dechiffriert werden müssen. Die Hände und Handhaltungen in seinen Selbstbildnissen zum Beispiel, besonders im "Selbstbildnis im Pelzrock" von 1500, haben in der Deutung immer Schwierigkeiten gemacht. Dabei entsteht eine frappierende Sinnhaftigkeit, wenn Details wie Handhaltungen oder Pflanzendarstellung als homoerotisches Zeichen gelesen werden. Um diesen Mehrwert geht es mir.
Am Bildrand einer Dürer-Zeichnung, die seinen Freund, den Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer zeigt, steht "Mit erigiertem Penis in deinen Anus"– also keine theoretische Blödelei unter Männern?
Bröker: Nein, ich glaube, dass war die Beschreibung wirklich vollzogener sexueller Interaktion. Die Geschichte dieser in Griechisch geschriebenen handschriftlichen Ergänzung ist bezeichnend. Jahrhundertelang hieß es: Das ist eine spätere Hinzufügung irgendeines Scharlatans, das hat nichts mit Pirckheimer und Dürer zu tun. Dann stellte sich mit modernen Analysemethoden heraus: Zeichnung und Schrift stammen vom gleichen Silberstift, also hat es einer von beiden dort hingeschrieben.
Und dann?
Bröker: Dann aber hieß es: Na ja, Analverkehr haben ja auch heterosexuelle Paare. Anstatt also das Naheliegende zu akzeptieren, wird etwas ganz Unwahrscheinliches unterstellt, nämlich dass eine irgendwie externe Dritte damit angesprochen würde. Die Analverkehr-Variante mag vielleicht nicht gefallen und auch verunsichern – aber es ist unter methodischen Gesichtspunkten einfach die sinnvollste Lesart.
War Homosexualität im Spätmittelalter etwa kein Tabu? Dürers Briefe, in denen er unter anderem über "hübsche Soldaten" in Venedig berichtet und die zweideutigen Motive scheinen dahingehend verblüffend.
Bröker: Homosexualität war offiziell ein Verbrechen, damals als "Sodomie" bezeichnet. Darunter fielen alle Formen von Geschlechtsverkehr, die nicht der Fortpflanzung dienten. Als die Schlimmste der sodomitischen Praktiken galt Sex unter Männern. In der Wirklichkeit sah das vermutlich ganz anders aus. Wir wissen durch zahlreiche Quellen aus Florenz und Venedig, dass dort männliche Homosexualität trotz Verbot eine gewaltige Rolle spielte. Dem Treiben Einhalt zu gebieten, gelang überhaupt nicht. Man wollte auch nicht einen Großteil der männlichen jungen Erwachsenen kriminalisieren, denn es gab eine große Bereitschaft, homosexuelle Praktiken auszuprobieren.
Eine Form von Akzeptanz, die Dürer auch in Nürnberg entgegenkam?
Bröker: Uns liegt ein Brief eines Lorenz Beheim vor, der dem schon erwähnten Willibald Pirckheimer erzählt, dass er von dem "Jungen Dürers", also eines deutlich jüngeren Mannes als Dürers Begleiter gehört habe, den Dürers ständiges Bartzwirbeln störe. Beheim echauffiert sich nicht, dass Dürer überhaupt einen "Jungen" hat, sondern Beheim mokiert sich über Dürers Dandy-Gehabe, mit Bärtchen und – wie wir aus anderen Quellen wissen – frisierten Locken und modischen Kleidern. Ich glaube, dass die Akzeptanz homosexueller Ausdruckformen in der Renaissance recht weit verbreitet war. Wenn das nicht allzu krass in der Öffentlichkeit gezeigt wurde, war man wohl bereit, schwule Lebensformen zu tolerieren.
Sie widmen sich mit Ihrem Bildband als Historiker einem eigentlich kunstgeschichtlichen Thema. Braucht die Dürer-Forschung einen frischen Blick von außen?
Bröker: Grundsätzlich finde ich, dass ein Blick von außen fruchtbar sein kann, um zahlreiche Phänomene unserer Welt adäquat zu beschreiben. In meinem ganz kleinen Bereich der Auseinandersetzung mit einem Dutzend Dürer-Werken hatte ich den Eindruck, dass die Kunstwissenschaft sexuelle Deutungen generell sträflich vernachlässigt. Das hat mich geärgert und gleichzeitig motiviert, meinen Standpunkt auszuarbeiten und in die Diskussion einzubringen. Mir fehlen die Kenntnisse, ob das auch für andere Künstler, andere Epochen, andere Themen gilt, aber ich vermute, dass es dort auch erhebliche Defizite in der Benennungsbereitschaft von sexuellen Aspekten gibt.
Der Band "Dürer und die Männer – Eindeutig zweideutig" erschien 2023 im Michael Imhof Verlag und ist zum Preis von 32,95 Euro im Buchhandel oder hier erhältlich.