40 und ungeküsst: In der Einsamkeitsfalle
11.12.2015, 13:14 UhrFür Frank Schneider sind Cafés tückisch, um sich zu unterhalten. Überall lauern Ohren. Schneider bleibt im Eingangsbereich eines Nürnberger Cafés stehen. Er sucht nach einem freien Tisch. Am liebsten in einer Ecke, weit weg von den anderen Gästen. Sie sollen nicht zuhören können, wenn er über sein Problem spricht. Das wäre ihm peinlich.
Hinten am Fenster ist noch ein Tisch frei. Die Kaffeemaschine hinter der Bar zischt laut. Tassen klappern. Menschen plappern. Die Lautstärke beruhigt Schneider. Er muss seine Stimme nicht dämpfen.
Frank Schneider ist 45 Jahre alt. Er wohnt in einem kleinen Ort in Franken und arbeitet in einem Büro. In seiner Freizeit treibt er gern Sport. Seinen richtigen Namen, seinen Wohnort, selbst die Sportart will er nicht preisgeben. Er fürchtet, wiedererkannt zu werden; er fürchtet die Blicke und das Getuschel. Mit dem müsse doch etwas nicht stimmen.
Der Vater riet ihm: "Such' dir ein Weib!"
In den Augen anderer ist Schneider ein Spätzünder. Ein Spät-Spätzünder. Er hat sich noch nie mit einer Frau verabredet oder Händchen gehalten. Während andere in seinem Alter schon auf die Scheidungspapiere warten, wartet er noch auf den ersten Kuss. Er selbst bezeichnet sich als "Absoluten Beginner" – kurz AB.
Der Ausdruck entstammt einem Lied von David Bowie: "I’ve nothing much to offer, there’s nothing much to take, I’m an absolute beginner" (auf Deutsch: Ich habe nichts zu bieten, es gibt nicht viel zu holen, ich bin ein absoluter Anfänger.) Als Absolute Beginner bezeichnen sich Erwachsene, die in der Liebe keine oder nur wenig Erfahrung vorweisen können.
Mit seinen Eltern und seiner Schwester hat Frank Schneider noch nie über sein AB-Sein gesprochen. Er hat Angst, sich ihnen anzuvertrauen – auch wenn es eine große Last von seinen Schultern nehmen würde. Doch er fürchtet die Ablehnung, die Demütigung, als Versager zu gelten. Als seine Eltern einmal das Thema Freundin anschnitten, rotzte ihm sein Vater einen Satz entgegen, den Schneider bis heute nicht vergessen hat. "Such' dir ein Weib!" Es schwang der Vorwurf mit, so schwer könne das doch nicht sein.
Nur jede zehnte Frau ist mit 19 noch Jungfrau
In Deutschland gibt es viele wie Frank Schneider. Männer und Frauen. Sie sind in jedem Beruf zu finden, in jeder Schicht und jedem Alter. Wie viele es sind, hat bislang kein Wissenschaftler erforscht und keine Statistik festgehalten. Den einzigen Ansatz liefert die Studie "Jugendsexualität" der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Die neuesten Zahlen sind druckfrisch.
Danach hat durchschnittlich mehr als die Hälfte der Jugendlichen im Alter von 17 Jahren bereits Geschlechtsverkehr gehabt. Nur zehn Prozent der Frauen sind im Alter von 19 Jahren noch Jungfrau. Mit 25 Jahren sinkt diese Zahl auf drei Prozent. Bei den Männern sieht es ähnlich aus. Bei der Befragung gaben 94 Prozent der 25-Jährigen an, sexuell erfahren zu sein. Zahlen, die darüber hinaus gehen, existieren nicht. Wahrscheinlich ist, dass es Tausende ABs in Deutschland gibt.
Einer der wenigen Wissenschaftler, der das Phänomen näher betrachtet hat und nach den Gründen suchte, ist der US-amerikanische Psychologe Brian Gilmartin. Er prägte in den 80er Jahren den Begriff der Love-Shyness (auf Deutsch: Liebesschüchternheit). Für ihn war extreme Schüchternheit die Hauptursache, dass so viele heterosexuelle Männer ohne sexuelle Erfahrungen blieben.
"Ich wollte stark sein, aber ich habe es nicht geschafft"
Frank Schneider ist bereits als Kind sehr schüchtern, fast ängstlich. Er weint oft. "Ich wollte stark sein, aber ich habe es nicht geschafft", sagt er. Im Unterricht traut er sich nie, etwas zu sagen. Wenn die Lehrerin seinen Namen aufruft, läuft er knallrot an. "Ich habe mich schon in jungen Jahren minderwertig gefühlt."
Zu Hause regiert der dominante Vater. Über Sex wird nicht gesprochen. Küssen sich zwei im Fernsehen, wechselt der Vater den Kanal. Schneider kommt in die Pubertät. Obwohl er den Mut aufbringt, sich mit seinen Klassenkameraden zu unterhalten, findet er keine Freunde – auch nicht außerhalb der Schule. Das süße Mädchen aus der 8. Klasse mit den langen brünetten Haaren himmelt er jahrelang an. Angesprochen hat er sie nie.
Während seine Mitschüler in ihrer Freizeit an den See fahren und auf Partys den ersten Kontakt zum anderen Geschlecht suchen – beschwingt durch den Alkohol – hockt Schneider allein in seinem Zimmer und hört Schallplatten. Dort fühlt er sich geborgen. Wenn er die Tür hinter sich zuzieht, bleiben die Enttäuschungen draußen. Aber eben auch das Leben mit seinen Möglichkeiten.
Rückblickend beginnt in diesen Jahren Schneiders Problem wie ein Wulst zu wuchern. Der Leidensdruck wächst. Er sehnt sich zwar nach einer Beziehung, traut sich aber nicht, auf Frauen zuzugehen. Was könnte er ihnen auch bieten? Er kann ja nichts vorweisen, hat keine Ahnung davon, wie man sich verhält, worüber man redet, was Frauen wollen oder erwarten. Mit 20 noch ungeküsst! Freunde, die ihn verkuppeln könnten, hat er nicht.
Sex im Puff
Im Café beugt sich Frank Schneider über die Tischmitte. Das soll nun wirklich niemand hören. Er hatte schon Sex gehabt, flüstert er kaum hörbar. Mit 18. Er ist in den Puff gegangen, weil er es endlich hinter sich bringen wollte. Seitdem hat er noch ein paar Mal mit Prostituierten geschlafen. Doch das macht er schon seit Jahren nicht mehr. Er findet dort nichts, wonach er sucht.
In der Lehre wird Schneiders Leben nicht leichter. Vom Chef wird er wegen seiner Ungeschicklichkeit gemobbt, von den Kollegen wird er gehänselt. "Es hat sich in der Seele festgesetzt, dass ich mich für unattraktiv halte." Schneider hofft auf den Zufall; hofft, dass ihn eine Frau in der Diskothek bemerkt, in die er ab und an geht und sie den ersten Schritt macht. Doch Wunsch und Realität finden nicht zusammen. Das Selbstwertgefühl ist auf dem Nullpunkt. Irgendwann resigniert er und beginnt sich mit seinem Schicksal abzufinden. "Ich bleibe allein und muss das Beste daraus machen."
Der Sexualwissenschaftler Jakob Pastötter kennt dieses Phänomen. Er macht jedoch allen Ungeküssten Mut. Wer erst spät Sex hat oder eine Beziehung eingeht, ist keineswegs unnormal. Die Studie zur "Jugendsexualität" der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sollte niemand überbewerten, mahnt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung. Die Zahlen seien lediglich Durchschnittswerte. Was ihn stört, ist der Druck, den sie aufbauen. "Durchschnittswerte suggerieren, dass sich jeder an ihnen zu orientieren habe. Im Bereich Sexualität zählt aber nur das individuelle Erleben."
Furcht und Angst lähmen die Libido
Schneiders Zerrissenheit, sich eine Beziehung zu wünschen, aber nichts dafür zu unternehmen, ist für Pastötter nicht ungewöhnlich. "Wir vermeiden heute alles, was nach Aufruhr aussieht, weil das anstrengend ist." Furcht und Angst lähmen dabei die Libido. Die bräuchte man aber, um sich zu verknallen, sagt der Sexualwissenschaftler. Er empfiehlt in dieser Situation eine schrittweise Therapie, um Hemmungen und Angst abzubauen. "Angst ist nicht absolut." Der Psychologe Andreas Rose rät zu einer Verhaltenstherapie oder einer kognitiven Verhaltenstherapie. Hier werden vor allem die Gedanken analysiert und die Gedankenverläufe sortiert. "Einige drehen sich gedanklich im Kreis. Allein ist es schwer, dort herauszufinden."
Vor sechs Jahren hat Frank Schneider eine Selbsthilfegruppe gegründet. Er wollte sich mit Leidensgenossen austauschen. Auf eine Chiffreanzeige meldeten sich fünf Männer und Frauen. Beim ersten Treffen in einem Café tastete er sich schrittweise vor. Welche Erfahrungen haben sie? Wie gehen sie mit ihrer Lage um? Mittlerweile treffen sich die Absoluten Beginner – sie sind zwischen 18 und 62 Jahre alt – zweimal im Monat in Nürnberg in einem Raum von Kiss, der Kontakt- und Informationsstelle Selbsthilfegruppen in Mittelfranken. Wer diesen betritt, trifft auf gewöhnliche Menschen und keine Sonderlinge. Nichts an ihnen ist auffällig. Nichts, was erklärt, warum sie zu Absoluten Beginnern wurden. Das Ungewöhnlichste ist noch, dass der jüngste Teilnehmer auf eine Frage hin ohne Punkt und Komma redet. Manchmal geht die Gruppe einen Kaffee trinken oder gemeinsam auf ein Stadtfest. Es sind die einzigen Menschen, denen sich Schneider jemals offenbart hat; mit denen er über alles sprechen kann.
Viele sind wie Schneider bereits als Kind sehr schüchtern gewesen. Einige begründen ihr AB-Sein mit häufigen Umzügen, zwischen denen kaum Zeit war, Freunde zu finden und Bekanntschaften zu machen. Andere erzählen, dass sie sehr streng erzogen wurden, die Eltern sehr religiös waren, deren Beziehung als unterkühlt empfunden haben. Manche schieben es auf ihr Äußeres. Vielleicht haben sie zu viele Kilos auf den Hüften? Sind zu unattraktiv? Aber warum finden dann viele Übergewichtige dennoch einen Partner? Es muss dann doch etwas anderes sein. Ist das Verhalten zu verschroben? Im Internet gehen die Meinungen in der AB-Szene weit auseinander.
Alleinsein gewohnt
"Ich bin das Alleinsein gewohnt, seit ich ein Kind bin", erzählt ein älterer Mann. Er ist um die 60. "Ich habe mich schon in meiner eigenen Familie fremd gefühlt." Er leide unter einer sozialen Phobie, gibt er zu. "Frauen merken, wenn man wenig Erfahrung hat."
Ihre Familien wissen nicht, dass sie Absolute Beginner sind. Vermutungen gibt es sicherlich. Aber keine konkreten Nachfragen. Auf beiden Seiten herrscht große Scham. Das Thema wird gemieden. Auf Sprüche wie "Geh doch mal raus! Wer sucht, der findet!" hat keiner Lust.
In den Niederlanden bietet ein Unternehmen Spätentwicklern, männlichen und weiblichen Jungfrauen besondere Dienstleistungen an. Aquarion, so der Firmenname, bringt den Teilnehmern alles Wissenswerte über Verabredungen und Beziehungen bei. Wer es wünscht, kann auch Sex buchen. In Deutschland gibt es nichts Vergleichbares. Die Kurse, die im Netz angeboten werden, richten sich eher an Liebeserfahrene, die an ihren Fähigkeiten – vor allem im Bett – arbeiten wollen.
In die Selbsthilfegruppe in Nürnberg kommen auch Männer und Frauen, die bereits kurze Beziehungen erlebt haben. Eine ABine, wie die weiblichen Absoluten Beginner heißen, ist Silvia Faber. Sie lebt seit vier Jahren in einer Beziehung. Vor wenigen Wochen ist sie mit ihrem Freund zusammengezogen. Obwohl sie einen festen Partner hat, will sie ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Silvia Faber ist ein Pseudonym, eine Schutzschicht. Noch immer hat die 47-Jährige Angst, dass die Familie, Nachbarn oder Kollegen von ihrem Geheimnis erfahren. Einmal AB, immer AB. Ein Stempel, der nicht verblasst. In der Gruppe ist Faber trotz Beziehung willkommen, auch weil sie ihren Erfolg nicht ständig zur Schau stellt. Sie kann den anderen Tipps geben; erklären, wie sie letztendlich einen Partner gefunden hat.
Bei ihrem ersten Kuss war Silvia Faber 43 Jahre alt und saß mit ihrem Freund auf einer Bank in der Fränkischen Schweiz. Sie unterhielten sich. "Und auf einmal hat er mich geküsst", erzählt sie und trinkt einen Schluck Cappuccino. Das Gespräch findet erneut in einem Café statt, erneut an einem Tisch in der hintersten Ecke. Zugegeben, der erste Kuss war gewöhnungsbedürftig, sagt sie. Die Zunge im Mund fühlte sich irgendwie eklig an.
"Sie ist in den Wechseljahren und ich bin noch in der Pubertät"
Faber trägt schulterlange blonde Haare. Sie hat studiert; sie lächelt viel und wirkt lebenslustig. Früher war das anders. Als Kind leidet sie unter ihrer extremen Schüchternheit und ihrem Übergewicht. Im Ort findet sie keine Freunde. Sie wartet darauf, dass Kinder sie ansprechen und zum Spielen einladen. "Ich bin mir total hässlich vorgekommen. Ich hatte kein Selbstbewusstsein." Der Wunsch nach einem Freund entwickelt sich bei ihr erst spät. Faber ist da bereits Mitte 20. Wenn Kolleginnen im Büro über ihre sexuellen Erlebnisse berichten, hofft sie, dass sich niemand erkundigt, wie es denn bei ihr aussieht? Was sollte sie darauf antworten? Nichts sagen? Lügen? Das Thema wechseln? Als eine Kollegin ihr von den Wechseljahren erzählt, fühlt sie sich vollends als Versager: "Sie ist in den Wechseljahren und ich bin noch in der Pubertät", denkt sie sich.
Als der Freund, den sie übers Internet kennengelernt hat, sie zum ersten Mal küsst, weiß er noch nichts von ihrer Unerfahrenheit. Faber ist glücklich und traurig zur gleichen Zeit. Sie wird ihm irgendwann die Wahrheit erzählen müssen. Doch wie so etwas sagen und zu welchem Zeitpunkt? Faber will ihn nicht verschrecken. Als ihr die Worte eine Woche später über die Lippen kommen, ist er überrascht – doch er bleibt gelassen. "Dann müssen wir es eben langsam angehen", sagt er. Um ihr die Angst vor dem ersten Sex zu nehmen, gibt er ihr ein Buch. Faber hat es immer noch. Beim ersten Mal nimmt er besondere Rücksicht.
Wie war ihr erstes Mal? Silvia Faber muss kurz überlegen, es ist ja schon einige Jahre her. "Schön", sagt sie schließlich. Endlich Sex zu erleben, sei im Nachhinein aber nicht das Wichtigste gewesen – sondern einen Menschen gefunden zu haben, dem man vertrauen kann und der einen liebt.
Weitere Infos zur Selbsthilfegruppe in Nürnberg unter: www.kiss-mfr.de/nuernberg.html. Unter www.abtreff.invocatio.net tauschen sich Absolute Beginner aus.
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