Auftakt einer Terrorserie: Übergriff auf 'Charlie Hebdo' jährt sich
7.1.2016, 06:33 UhrDie Räume im Haus Nummer 10 in der Pariser Rue Nicolas-Appert sind wieder zu haben. Die städtische Immobiliengesellschaft RIVP möchte einen Schritt in Richtung Normalität gehen. Frische Farbe an den Wänden auf rund 280 Quadratmetern wird dafür kaum reichen. In diesen Räumen begann am 7. Januar vor einem Jahr mit dem Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" eine Welle des Terrors, deren Schrecken Frankreich bis hin zu den jüngsten Attacken am 13. November kaum zu Atem kommen lässt.
Auch einige Kilometer weiter östlich scheint im Hyper Cacher für koschere Lebensmittel angesichts von Absperrgittern und bewaffneten Soldaten vor der Tür so etwas wie Normalität noch weit entfernt. In dem Supermarkt am Stadtrand der französischen Hauptstadt fand - wie auch in einer Druckerei in Dammartin-en-Goële nordöstlich von Paris - die blutige Serie zwei Tage nach dem Überfall auf "Charlie Hebdo" ein allerdings nur vorläufiges Ende. Bei dem Anschlag auf das Magazin sterben zwölf Menschen. So bekannte Zeichner wie Stéphane Charbonnier (Charb), Jean Cabut (Cabu), Philippe Honoré oder Georges Wolinski zählen zu den Opfern.
Täter wurden auf Flucht erschossen
Täter sind die islamistischen Brüder Chérif und Said Kouachi, die beiden Franzosen morden für die Terrorgruppe Al-Kaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP). Nach zwei Tagen auf der Flucht werden sie am Ende einer Geiselnahme in der Druckerei erschossen. Die in Frankreich radikalisierten Kouachis stehen in Kontakt mit Amedy Coulibaly. Der ebenfalls in Frankreich aufgewachsene Islamist erschießt am Tag nach "Charlie Hebdo" eine Polizistin im Süden von Paris und nimmt am Tag darauf Kunden des Hyper Cacher als Geiseln.
Coulibaly, der sich zur Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bekennt, tötet vier Geiseln, bevor er selbst bei der Erstürmung des Marktes erschossen wird. Insgesamt sterben an den Terrortagen im Januar 17 unschuldige Opfer. Eine internationale Welle der Solidarität unter dem Schlagwort "Je suis Charlie" (Ich bin Charlie) prägt die Zeit nach den Attacken.
Straßenzüge des Gedenkens und der Trauer
Wie auch mehr als zwei Millionen andere Menschen überall in Frankreich gehen in Paris Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt auf die Straße, angeführt wird der Marsch von Präsident François Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Trauer, Gedenken, Erinnerungen kennen kaum Grenzen in Ausmaß und Formen. "Die Anschläge galten einer Kultur der Vielfalt und haben in beeindruckender Weise kreative Reaktionen hervorgerufen", sagt Godehard Janzing, Vizedirektor am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris.
Die Attacke auf "Charlie Hebdo" ist nicht die erste. Schon früher werden die Räume des religionskritischen Magazins verwüstet. In der Ausgabe vom Tattag findet sich eine Karikatur von Charb. Auf die Schlagzeile "Noch keine Anschläge in Frankreich" reagiert ein bewaffneter Islamist mit Hinweis auf einen französischen Brauch: "Abwarten! Es ist noch Zeit bis Ende Januar, um seine Festtagsgrüße auszurichten."
Die nächste Ausgabe nur eine Woche nach der Attacke wird zum Manifest gegen den Terror im Gedenken an die Opfer. Das Heft mit der Karikatur eines um die Opfer trauernden Mohammeds ("Alles ist vergeben - Ich bin Charlie") erreichte mit mehreren Nachdrucken eine Auflage von fast acht Millionen Exemplaren.
Redaktionsmitglieder nahmen sich eine Auszeit
Der überlebende Teil der Redaktion nimmt eine Auszeit bis zum nächsten Heft Ende Februar. Der neue Chefredakteur Gérard Biard berichtet von der Erschöpfung der Kollegen, viele der Betroffenen seien in psychologischer Behandlung. Gleichzeitig erlebt das vor dem Anschlag bei 30.000 Exemplaren darbende Magazin ein kleines Wirtschaftswunder. Die Zahl der Abonnenten steigt auf mehr als 200.000, bis heute sind es gut 180.000 Abos plus etwa 100.000 an den Kiosken verkaufte Hefte.
Zwischen den Pariser Anschlägen vom Januar und November verblasst die Erinnerung an die Spur des Terrors, die sich das Jahr über durch Frankreich zieht: Im April fasst die Polizei in Villejuif südlich von Paris einen 24-Jährigen mit Kontakten nach Syrien vor einem Anschlag auf eine Kirche. Zwei Monate später enthauptet ein mutmaßlicher Islamist seinen Chef, ein Anschlag auf ein Werk für Industriegase wird verhindert. Im August überwältigen Fahrgäste im Thalys-Schnellzug nach Paris einen 25 Jahre alten Islamisten, bevor er mit einem Schnellfeuergewehr um sich schießen kann.
Das Innenministerium berichtet immer wieder von vereitelten Anschlägen. Sonst als fast alltäglich geltende Überfälle, Attacken, Angriffe heißen 2015 fast immer: Alarm und Großeinsätze, mediale Schnappatmung und Gedanken an Terror.
130 Menschen starben bei Anschlägen im November
"Charlie Hebdo" ist auch bei der Anschlagserie vom 13. November sofort präsent. Drei Terrortrupps töten 130 Menschen in der Konzerthalle "Bataclan", vor Bars und Restaurants, am Stade de France, wo gerade das französische Team gegen die DFB-Elf spielt. Die Redaktionsräume von "Charlie Hebdo" liegen um die Ecke von den Anschlagsorten im Osten von Paris. Die Politiker-Demo nach "Charlie" wurde in unmittelbarer Nähe des "Bataclan" aufgestellt.
Kunsthistoriker Janzing verweist auf diese räumliche Nähe: "Die Wahl der Tatorte und ihre räumliche Lage in der Stadt gehorchen zumindest unterschwellig einer topographischen Logik." Handeln im städtischen Raum sei niemals neutral.
"Die Strecke zwischen den Plätzen Republik und Nation ist auch eine staatlich-repräsentative Achse", sagt Janzing. Fast alle Anschlagsorte markieren diese prägnante Linie. Nach den Januar-Attacken gibt es Pläne, für jedes der 17 Opfer einen Olivenbaum auf dem Platz der Republik zu pflanzen.
Hollande pflanzt Baum zum Gedenken
Das neu gestaltete riesige Gelände um das Denkmal der französischen Marianne entwickelt sich nach jedem neuen Terrorschlag zum Ort von Gedenken und Gesprächen, Trauer und Diskussion. Nach den Anschlägen im November mit 130 Toten käme der Platz einem Wald gleich. Nun soll es ein Baum werden, den Hollande am Sonntag pflanzen will.
"Charlie Hebdo" blickt mit einem Sonderheft zurück auf den Anschlag, der den blutigen Auftakt des Terror-Jahrs markiert. Die Doppelnummer mit 32 statt 16 Seiten enthält an zentraler Stelle auch Arbeiten der ermordeten Zeichner Charb, Honoré, Cabu, Wolinski und Tignous.
Eine Million Exemplare werden gedruckt, in Deutschland liegen 50.000 Hefte aus. Die Sonderausgabe zeigt, wie ätzend "Charlie Hebdo" immer wieder auch Religion kritisieren kann. Auf dem Titel findet sich ein Gott als bewaffneter Terrorist auf der Flucht vor seinen Häschern: "Ein Jahr danach - der Mörder ist immer noch auf freiem Fuß."
Das in Syrien und im Irak gegen die IS-Terrormiliz kämpfende Frankreich sieht sich trotz anhaltenden Ausnahmezustands und allgegenwärtigen Patrouillen von Polizei und Militär weiter vom Terror bedroht. Präsident Hollande lässt keine Zweifel aufkommen: "Frankreich ist noch nicht fertig mit dem Terrorismus." Die Bedrohung sei immer noch da, "auf höchstem Niveau".