Gedankenspiel
„Die Anomalie“: Was wäre, wenn es Sie plötzlich doppelt gäbe? - Buchtipp
19.02.2025, 12:47 Uhr
Wie einzigartig sind wir wirklich? Victor Miesel, Schriftsteller und schwer depressiv, meint, wenn es ihn doppelt gäbe, verändert sich gar nichts. Wir seien ohnehin blind gegen alles, was uns unsere Ersetzbarkeit vor Augen führt.
Absolut gegenteilig handelt Auftragsmörder Blake. "Ich bin du, du bist ich, das ist einer zu viel, denn wir können nicht zwei sein, verstehst du?"
Was bedeutet Einzigartigkeit, was bedeutet es, dupliziert zu werden? Sind wir ersetzbar oder nicht, können wir uns überhaupt diese Ersetzbarkeit vorstellen?
Was passiert, wenn wir tatsächlich verdoppelt werden?
Dieses Gedankenspiel bietet Hervé Le Telliers Roman "Die Anomlie". Ein Flugzeug befindet sich auf dem Weg von Paris nach New York. An Bord: 243 Passagiere, dazu kommen Piloten und weitere Crew. Über dem Atlantik gerät die Maschine in einen Sturm, besteht jedoch gegen die Turbulenzen des elektromagnetischen Wirbelsturms und landet planmäßig am Flughafen JFK in New York. So weit, so gut, die nächsten drei Monate passiert nichts weiter, eine Geschichte, die der Erzählung nicht wert wäre. Dann allerdings passiert die Anomalie, die dem Roman seinen Namen gibt.
Denn 106 Tage später taucht dieselbe Maschine wieder am Himmel auf. Ja, tatsächlich dieselbe, nicht die gleiche, denn es ist dasselbe Flugzeug, mit denselben Passagieren, derselben Besatzung und derselben Flugnummer. Flugzeug, Passagiere, Piloten und Crew gibt es jetzt zweimal.
Zu Beginn des Romans lernen wir einige der Passagiere kennen. Jeder der Passagiere bekommt dazu ein eigenes Kapitel. Das gibt uns genügend Zeit, die Figuren tatsächlich kennenzulernen und nicht nur oberflächlich zu streifen. Das Ganze gelingt erstaunlich kurzweilig, den Le Tellier verblüfft mit einem vielseitigen Erzählstil. So unterscheiden sich die Genres der jeweiligen Kapitel voneinander, passend zu den Charakteren, und variieren zwischen Thriller, psychologischem Roman oder einer Ich-bezogenen Gedankenerzählung.
Wie sollen die Figuren nun mit der absurden Koexistenz einer zweiten Version des Ichs umgehen? Auch hier entzweien sich die Methoden, denn während die einen damit hadern, plötzlich das fünfte Rad am Wagen ihrer Beziehungen zu sein, die anderen, allen voran der Schriftsteller Victor Miesel, im Grunde gar nicht mit der Dopplung umgehen will, entscheidet sich beispielsweise der Auftragsmörder Drake für ein durchaus drastischeres Vorgehen.
"Die Anomalie" von Hervé Le Tellier ist ein faszinierendes Gedankenexperiment. Es ist gleichzeitig witzig, tragisch, spannend und regt zum Nachdenken an. Das Ende lässt uns zwar etwas verdutzt zurück, doch dem Roman kann dennoch eine absolute Leseempfehlung ausgesprochen werden. Das findet übrigens auch ARD-Literaturexperte Denis Scheck: Er stellt dem Roman "Die Anomalie" das Prädikat "Ohne Zweifel Weltliteratur" aus.
Hervé Le Tellier: Befreiung durch formale Zwänge
Le Tellier ist der Präsident der französischen Oulipo-Gruppe. Oulipo steht für "l‘Ouvroir de Littérature Potentielle", zu Deutsch der Werkstatt für potenzielle Literatur. Bei potenzieller Literatur oder auch experimentellem Schreiben geht es laut dem Frankfurter Ableger der Gruppe darum, durch formale Zwänge und Regeln, die man sich selbst setzt, einen kreativen Schub zu bekommen.
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Diesen literarischen Einfluss bemerkt man natürlich auch in Le Telliers Schriften, die von Novellen und Fabeln bis zu Romanen reichen, und so auch in "Die Anomalie", einem seiner erfolgreichsten Werke, das 2020 mit dem Prix Goncourt als bester französischsprachiger Roman des Jahres ausgezeichnet wurde.
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