Buchtipp
Juli, August, September von Olga Grjasnowa: Identitätssuche oder Flucht vor Mid-Life-Crisis?
13.1.2025, 11:30 UhrNachdem Olga Grjasnowa mit ihrem letzten Buch einen Abstecher zum historischen Roman unternommen hatte, ist Juli, August, September wieder ein zeitgenössischer Ausschnitt aus dem Leben eines Menschen mit schwieriger Familiengeschichte und erinnert an ihre beiden ersten Werke. Auch ihr jüngster Roman thematisiert die Identitätssuche, die Menschen erleben, deren Familien wegen Krieg und Ungerechtigkeit aus ihrem Leben gerissen wurden.
Romanheldin Lou lebt mit ihrem Mann Sergej und Tochter Rosa in Berlin. Im Alltagsleben hat sich drückende Routine eingeschlichen: Während Sergej als Pianist immer wieder auf Konzertreisen unterwegs ist, kümmert sich Lou überwiegend allein um Rosa und den Haushalt. Eigentlich arbeitete Lou in einer Galerie und war selbst viel auf Reisen, gerade nimmt sie sich aber eine Auszeit, um ein Buch zu schreiben. Recht voran kommt sie damit nicht.
Eher widerwillig begleitet Lou ihre Mutter nach Gran Canaria, um dort die Großfamilie aus Israel zu treffen: Großtante Maya feiert ihren 90. Geburtstag. Das Leben in Berlin liegt derweil auf Eis, denn während Lou und Rosa mit der Großfamilie auskommen müssen, ist Sergej auf Konzertreise.
Die familiäre Vergangenheit drängt uns als Leserinnen und Leser genauso vom problematischen Eheleben weg wie Lou. Die 90-jährige Großtante ist die letzte Zeitzeugin der Shoah im Zweiten Weltkrieg, musste mit ihrer Familie aus Weißrussland nach Osten fliehen. Die Umstände, unter deren Maya mit ihrer Schwester Rosa die Flucht erlebten, unterwegs zuerst den Vater verloren und dann von der Mutter im Stich gelassen wurden, haben sich in den Geschichten Mayas im Laufe der Jahre verändert. Rosa, Lous Großmutter und Namensgeberin für die Tochter, ist bereits vor einigen Jahren gestorben und kann sich von den Änderungen der Geschichte, in denen sich Maya zunehmend in den Mittelpunkt stellt, nicht erwehren.
Es entspinnt sich eine Suche nach der Familienidentität, die Lou sogar dazu veranlasst, ihrer Familie nach Israel hinterher zureisen. Irgendwie ist diese Suche aber auch ein Versteckspiel vor der eigenen Sinnsuche, denn die im Raum schwebende Scheidung von ihrem Mann, der in der Zwischenzeit auf Konzertreise inklusive potenziellem Seitensprung ebenso vor ungewissen Karriereentscheidungen steht, lässt sich von Israel aus gut verdrängen.
Am Ende ist es eine Geschichte von Gelegenheiten, von "Was-wäre-wenns", wir wissen ebenso wenig, wie die Geschichte weitergehen wird, wie Lou und Sergej. Der Roman ist gespickt von Hinweisen, wie das Leben der beiden weiter verlaufen könnte. Es gibt Hinweise dafür, dass Lou zurückkehrt in die Galerie und in einen Beruf, der sie erfüllt hat. Den Versuch, das Eheleben wieder in den Griff zu bekommen, die vergangene Fehlgeburt hinter sich zu lassen, die Grund war für Lous Depression und Auszeit aus dem Beruf. Es doch noch einmal mit einem weiteren Kind zu versuchen. Hinweise darauf, dass Sergejs Konzertkarriere wieder Fahrt aufnimmt. Ebenso gibt es Hinweise für Scheidung, Stagnation im Beruf und Privatleben.
Viel Erkenntnis bietet die Geschichte für uns Leserinnen und Leser leider nicht. Doch spiegelt sich darin auch die noch fehlende Erkenntnis der Hauptfiguren wider. Olga Grjasnowas jüngster Roman lässt einen nachdenklich zurück, was angesichts ihrer bisherigen Werke nicht verwunderlich ist. Ohne viel Erklärung und Einleitung gelingt es Grjasnowa erneut, eine tiefe Verbundenheit zwischen Leserin oder Leser und ihrer Protagonistin herzustellen. Grjasnowa schreibt schonungslos ehrlich und direkt, zieht uns mit ihrer Geschichte in den Bann und lässt uns die verschiedenen Phasen, die Lou in dieser Episode ihres Lebens durchmacht, miterleben. Mühelos gelingt es ihr, die alltäglichen Sorgen einer alltäglichen Person mit dem Schrecken des Krieges zu verbinden.
Juli, August, September ist zwar keine Biografie, dennoch hat der Roman autobiografische Züge, wie Olga Grjasnowa beim NDR zugab. "Es ist nicht wirklich meine Autobiografie, es sind sehr viele Dinge, die ich mit Lou gemeinsam habe." So stammen beide aus Aserbaidschan und kamen als Flüchtlinge nach Deutschland. Auch ihre bisherigen Werke handelten von Diaspora, Vertreibung und Identitätssuche. Dennoch fiel laut Grjasnowa der Schreibprozess diesmal schwerer, handelt es sich schließlich auch um die Geschichte ihrer eigenen Großmutter.
Abschließend kann nicht nur für Juli, August, September eine absolute Leseempfehlung ausgegeben werden, sondern auch für Grjasnowas anderen Werke. Olga Grjasnowa gehört zu den großen deutschsprachigen Autorinnen und Autoren unserer Zeit. Ihre Romane verdeutlichen, wie der Schrecken von Krieg und Vertreibung auch über Generationen hinweg das Leben von Menschen beeinträchtigt und beeinflusst, ohne dabei mit erhobenem Zeigefinger die Moralkeule zu schwingen.
Juli, August, September
von Olga Grjasnowa
- 224 Seiten
- Hanser Berlin, 17. September 2024
- ISBN 978-3-446-28169-1
- 24 Euro