Faszinierende Figuren

Überlebensgroß und übermenschlich: Die Geschichte vom isländischen Fährmann „Ósmann“ - Buchtipp

Benedikt Dirrigl

Redakteur

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26.03.2025, 08:51 Uhr
Ganz in der Nähe von seiner Fähre ist Ósmann eine Statue gewidmet. Jetzt gibt es auch einen Roman über sein Leben.

© IMAGO / Danita Delimont Ganz in der Nähe von seiner Fähre ist Ósmann eine Statue gewidmet. Jetzt gibt es auch einen Roman über sein Leben.

„Dies ist eine wahre Geschichte. Jedoch, der Autor erlaubt sich erzählerische Freiheit. Es sei ihm erlaubt.“

Diese Worte leiten den Roman von Joachim B. Schmidt noch vor dem Prolog ein. Das Buch wirft einen Blick auf eine faszinierende Figur, die in Island um die Jahrhundertwende auf der ganzen Insel bekannt war. Ósmann ist berühmt für seine Geselligkeit und seine Gastfreundschaft. Doch es steckt mehr hinter dem Menschen, als der fröhliche Fährmann erahnen lässt.

„Ósmann“ von Joachim B. Schmidt

Wer an der Nordküste von Island von Ost nach West reisen will, kommt automatisch bei Ósmann vorbei. Eigentlich heißt der Fährmann Jón Magnússon, doch nach vielen Jahren seiner Arbeit bekam er den Beinamen Ósmann. Ós bedeutet Flussmündung. So ist er also der Mann am Ós, den man dort eigentlich immer antrifft. Ósmann ist bekannt für seine Gastfreundschaft, die er genauso lebt wie seine Mutter, die niemanden jemals vom Hof verwiesen hatte, der Obdach und Verpflegung gebraucht hätte. In seiner Hütte Emanuel nimmt Ósmann oft Reisende auf, verpflegt sie mit Suppen oder Eintopf, wenn sie durchgefroren sind, und reicht Kaffee oder Brennivín (Brandwein). Gemäß dieser Geselligkeit und Gastfreundschaft macht es auch Sinn, dass die Geschichte nicht in einem konsequenten Ablauf der Zeit erzählt wird. Denn auch unser Erzähler ist ein Gast in der Hütte Emanuel, der regelmäßig bei Ósmann zu Besuch ist. Er erzählt Ósmanns Geschichte so, wie man sie bei einem gemütlichen Beisammensitzen erzählen würde: In einzelnen Episoden, die nicht etwa einem Zeitstrahl folgen. So erfahren wir im Laufe des Romans immer mehr über diese faszinierende, überlebensgroße, irgendwie übermenschliche Figur.

„Ósmann“: Fröhlich und doch herrlich melancholisch

Denn auch wenn Ósmann den meisten Menschen als fröhlich und trinkfreudig begegnet, steckt doch mehr hinter der Fassade des Mannes, der Zeit seines Lebens kaum die Gegend um den Fjord verlässt, in der er aufgewachsen ist. So überlebt er nicht nur viele seiner Freunde, sondern muss auch öfter als einmal einen Sohn im Säuglingsalter zu Grabe tragen. Man bekommt den Eindruck, dass Ósmann zunehmend an der Last seines Lebens zerbricht, es aber doch immer wieder schafft, sich aufzurappeln. Diese düsteren Momente scheint er nur mit unserem Erzähler zu teilen, nicht mit seinen Freunden und auch nicht mit seiner Familie.

Diese Erzählinstanz ist ebenso faszinierend wie Ósmann selbst. Er stellt sich als Vagabund vor, eine erschreckende Gestalt, die unter den Menschen nicht zu Hause ist, seit er von seinem Vater aus dem Haus gejagt wurde. Im Laufe der Erzählung fragt man sich beim Lesen immer wieder, wer oder was der Erzähler eigentlich ist. Denn Ósmanns Wahrnehmung ist nicht nur auf Menschen beschränkt, er sieht auch Kobolde, Elfen und Geister. Seltsam hinzukommt, dass Ósmann die einzige Person zu sein scheint, die mit unserem Erzähler kommuniziert, die meisten anderen scheinen ihn gar nicht wahrzunehmen. Bis zum Ende des Romans bleibt die Figur ein Rätsel.

„Ósmann“ von Joachim B. Schmidt

„Ósmann“ von Joachim B. Schmidt © Diogenes

„Ósmann“ von Joachim B. Schmidt: Tiefe Metaphern und überzeugende Figuren

Joachim B. Schmidt erzählt auf unnachahmliche Weise die Geschichte dieser faszinierenden Figur. Obwohl Ósmann beinahe unmenschlich wirkt in seiner Gutherzigkeit, sind die Figuren doch authentisch und überzeugend. Schmidt holt uns ab in die Welt Islands um die Jahrhundertwende, aber vielmehr in die Tiefe dieser Person, um die sich der ganze Roman dreht. Ohne aufdringlich zu wirken, lässt er uns mit Ósmann fühlen, seine tiefe Trauer genauso spüren wie sein Glück, seine Angst, seine Melancholie und auch seine Freundlichkeit. Ein Muss genauso für Fans der skandinavischen Kultur wie auch für Freunde von Porträts von faszinierenden Personen, die viele Menschenleben bewegt haben, ohne eine große Rolle in der Politik zu spielen.

"Ósmann"

von Joachim B. Schmidt

  • 288 Seiten
  • Diogenes
  • ISBN: 978-3-257-07330-0
  • 25 Euro

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