Neue Recherche deckt auf

Erschreckende Zahlen: Zehntausende minderjährige Flüchtlinge gelten als vermisst

Antonia Plamann

nordbayern-Redaktion

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30.4.2024, 09:33 Uhr
Bis geflüchtete Jugendliche ein neues Zuhause finden, kann es meist Monate dauern. Bis dahin leben sie größtenteils ohne Privatsphäre mit anderen in einem Raum. (Symbolbild)

© Bernd Wüstneck/dpa Bis geflüchtete Jugendliche ein neues Zuhause finden, kann es meist Monate dauern. Bis dahin leben sie größtenteils ohne Privatsphäre mit anderen in einem Raum. (Symbolbild)

Die Zahl der unbegleiteten Kinder und Jugendlichen, die als vermisst gelten, beläuft sich derzeit auf 51.433. Wie "rbb24" mitteilt, haben die Behörden bis heute keine Kenntnisse über deren Verbleib. Die Anzahl vermisster Kinder und Jugendlicher hat sich seit der letzten Datenrecherche im Jahr 2021 mehr als verdoppelt: damals wurden europaweit 19.292 Geflüchtete vermisst, in Deutschland waren es 792.

In den vergangenen drei Jahren sind 286 Kinder und Jugendliche aus der Obhut der Berliner Behörden verschwunden. Nach 62 wird immer noch gesucht.

Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, die für die Erstversorgung und -betreuung der jungen unbegleiteten Geflüchteten zuständig ist, gibt auf Nachfrage von "rbb24" an, nicht zu wissen, wie viele Jugendliche in Berlin verschwunden sind. Die Träger der Versorgungseinrichtungen seien verpflichtet, jeden Verschwundenen vermisst zu melden.

Die jungen Geflüchteten absolvieren ein Erstgespräch, in dem sie erzählen, woher sie kommen, wie alt sie sind und wo sie hinwollen. In Berlin ist die Wartezeit für ein solches Gespräch sehr lang. Vergangenen Sommer konnte es bis zu neun Monate dauern, bis die geflüchteten Jugendlichen ein neues Zuhause erhielten. Nun stellte die Senatsverwaltung mehr Personal ein, sodass die Wartezeit auf vier Monate verkürzt wurde. Während des Wartens leben die Jugendlichen in großen Unterkünften, meist mit einem anderen Kind oder Teenager im Zimmer.

Die Lage sei sehr frustrierend, sagt Theresa Keil vom Deutschen Kinderhilfswerk: "Das aktuelle Hilfesystem ist sehr angespannt. Die Kinder, die in Deutschland ankommen, müssen teilweise sehr lange darauf warten, bis sie ihr Erstgespräch haben, bis sie in die Kommunen verteilt werden und auch Zugang zu Bildung bekommen."

Für viele sei das der Moment, in dem sie den Entschluss fassen, lieber auf eigene Faust loszuziehen, fasst Helen Sundermeyer vom Bundesverband für unbegleitete minderjährige Geflüchtete (BumF) die Erfahrungen vieler Fachkräfte zusammen: "[Die Jugendlichen] wissen nicht so richtig, was passiert. Sie wissen nicht: werden sie noch verteilt, werden sie noch älter geschätzt? Und das produziert natürlich eine Perspektivlosigkeit bei den jungen Menschen, die vielleicht auch dazu führt, dass einige denken, irgendwo anders könnte es besser sein und dass sie dann weiterziehen, ohne dass irgendjemand weiß, wohin."

"Wir haben ein kaputtes Migrationssystem", sagt auch die zuständige EU-Kommissarin für Inneres und Migration, die Schwedin Ylva Johansson, im Interview mit "rbb24". Sie fügt allerdings sofort hinzu: "Mit dem neuen Migrationspakt reparieren wir das."

Bis heute gibt es keine einheitlichen Vorgaben, nach denen Informationen über aufgenommene oder verschwundene Minderjährige gespeichert und ausgetauscht werden müssen. Wenn die Zielländer dann bei einem Behördenkontakt der Jugendlichen deren Daten nicht (oder nicht korrekt geschrieben) über das zentrale Vermisstenregister im Schengenraum abgleichen, bleiben sie offiziell vermisst, auch wenn die Kinder vielleicht in sicheren Verhältnissen leben. Dennoch sagt Johansson: "Das Schengen-Informationssystem funktioniert. Auf diesem Weg werden sehr viele Kinder wiedergefunden."

Doch die über 50.000 verschwundenen Flüchtlinge können in großer Gefahr sein. So sagt Keil vom Deutschen Kinderhilfswerk: "Wenn Kinder als vermisst gelten, müssen wir davon ausgehen, dass sie besonderen Risiken ausgesetzt sind. Es kann sein, dass sie auch zum Beispiel kriminellen Organisationen in die Hände fallen, dass sie ausgebeutet werden, sexuellen Missbrauch erfahren. Solche Fälle kennen wir. Vor diesen Gefahren muss das Kind geschützt werden."

Immerhin soll jetzt ein einheitliches Registrierungssystem für unbegleitete minderjährige Geflüchtete eingeführt werden. Das löst zwar noch nicht das Problem der derzeit vermissten Kinder. Doch die EU-Länder sollen nun bessere Voraussetzungen schaffen und die Vermittlung von Ansprechpersonen und Vormündern erleichtern. Nur müssen die Mitgliedsländer die neuen Vorgaben noch in nationales Recht überführen, und das System dann auch nutzen.

"Ich habe von allen 27 Staaten die Zusage bekommen, dass sie das tun werden", zeigt sich die EU-Kommissarin Johansson zuversichtlich. Notfalls bleibe noch die Möglichkeit ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ein säumiges Land einzuleiten. Diese Verfahren dauern allerdings Jahre.