Nach dem Atomausstieg

Günstig, sicher, umweltschonend: Ist Kernenergie wirklich eine saubere Alternative?

Johannes Lenz

Nordbayern-Redaktion

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15.11.2023, 05:58 Uhr
Das Atomkraftwerk Isar 2 bei Landshut war eines der drei letzten Kernkraftwerke, die im April 2023 in Deutschland abgeschaltet wurden.

© IMAGO/Wolfgang Maria Weber Das Atomkraftwerk Isar 2 bei Landshut war eines der drei letzten Kernkraftwerke, die im April 2023 in Deutschland abgeschaltet wurden.

Am 15. April dieses Jahres sind die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland vom Netz gegangen. Etwas mehr als ein halbes Jahr später ist die Diskussion um die Sinnhaftigkeit der Kernenergie aber immer noch voll entbrannt. Befürworter argumentieren mit hoher Sicherheit, beispielloser Umweltfreundlichkeit und günstigem Strom, den das Land dringend brauche.

In der Schweiz feiert die Atomkraft nun möglicherweise ein Comeback: Die Stopp-Blackout-Initiative hat eine Unterschriftenaktion gestartet, um das Bauverbot für neue Meiler aufzuheben. Bereits 120.000 Unterstützer konnte die Initiative bereits für ihr Anliegen gewinnen. "Die Schweiz muss jetzt dringend für eine sichere, eigenständige, umwelt- und klimaschonende Stromversorgung sorgen", zitiert "Watson" die Initiatoren. Aber ist die Kernenergie überhaupt so sicher und nachhaltig, wie es oft behauptet wird? Und wie sinnvoll ist Atomstrom unter ökonomischen Gesichtspunkten?

Atomstrom: Wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig

Ein gängiges Narrativ, das Atomkraft-Befürworter gerne bemühen, ist die Mär vom günstigen Atomstrom. Tatsächlich bemaß der "Deutschlandfunk" die Erzeugerkosten für Atomstrom im Jahr 2010 auf drei bis sechs Cent pro Kilowattstunde, im Jahr 2019 gab das Energie- und Wirtschaftsministerium "Quarks" gegenüber Gestehungskosten (= die Kosten, die für die Energieumwandlung von einer anderen Energieform in elektrischen Strom notwendig sind) in Höhe von rund 13 Cent pro Kilowattstunde an. Doch die tatsächlichen Kosten für die Gewinnung von Strom aus Kernenergie sind weitaus höher.

Ursächlich dafür sind die hohen Kosten für den Bau, den Betrieb und die Wartung der Meiler. Außerdem verschlingen der Rückbau ausgedienter Kraftwerke und die Lagerung des bei der Stromproduktion anfallenden Atommülls viel Geld. Der Energieökonom Christian von Hirschhausen bezeichnet Atomkraft dem Öko-Institut gegenüber Atomkraft sogar als "die mit Abstand teuerste Stromerzeugungstechnologie." Die schlechte Wirtschaftlichkeit von Atomkraftwerken belegte von Hirschhausen gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern in einer Studie am Deutschen Wirtschaftsinstitut, die im Jahr 2018 veröffentlicht wurde.

Im April 2023 wurde eine weitere Studie publik, die von Hirschhausens Schlüsse untermauert. Wissenschaftler der Technischen Universität Berlin und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung wurden von der Bundestagsfraktion der Grünen einer Untersuchung betraut: Sie sollten eine Einschätzung abliefern, ob eine Laufzeitverlängerung bestehender oder der Neubau zusätzlicher Kraftwerke aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll wäre. Laut "Forschung und Wissen" urteilten die Forscher, dass Atomkraft "deutlich zu teuer" sei.

In der Untersuchung wurde unter anderem auf die mangelnde Wirtschaftlichkeit aktueller Neubauprojekte in Europa verwiesen. Bei diesen würden die Investitionskosten um ein Vielfaches über der betriebswirtschaftlichen Rendite liegen. Auch bei bereits bestehenden Anlagen fällt das Urteil vernichtend aus: Diese seien nur dank umfangreicher Subventionen überlebensfähig, besonders ältere Meiler würden hohe Ausgaben und ökonomische Unsicherheiten verursachen. Eine nochmalige Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke hätte nur durch eine "Verstaatlichung der kommerziellen Risiken" realisiert werden können.

Das Forum für ökologisch-soziale Marktwirtschaft schätzt, dass die Gewinnung von Atomstrom in Deutschland zwischen 1955 und 2022 mit weit über 200 Milliarden Euro staatlichen Mitteln subventioniert wurde.

Nachhaltigkeit? Fehlanzeige

Ein weiteres gängiges Argument für Atomkraft ist die angeblich nachhaltige Energiegewinnung. Durch Atomkraft würden weniger fossile Brennstoffe wie Erdöl oder Kohle verbraucht, wodurch weniger CO₂ zur Energiegewinnung emittiert werde. Wenig verwunderlich also, dass das EU-Parlament im vergangenen Sommer dafür gestimmt hat, in die Taxonomie - "die Liste der ökologisch nachhaltigen Wirtschaftstätigkeiten" aufzunehmen, wie die Tagesschau berichtete.

Doch der Beschluss war im Vorfeld von viel Widerstand begleitet worden, Umweltschützer kritisierten das Vorgehen scharf. Zwar stimmt es, dass während der Stromerzeugung in Atomkraftwerken deutlich weniger CO₂ anfällt als beispielsweise in Kohlekraftwerken. Wie "Quarks" berichtet, ist die Stromgewinnung durch Atomenergie aber keineswegs klimaneutral.

An die günstige CO₂-Bilanz von Wasserkraft (unter drei Gramm pro Kilowattstunde oder Offshore-Windenergie (knapp 5g/kWh) reicht Atomstrom nicht heran: Laut "Quarks" fallen etwa zwölf Gramm CO₂ bei der Gewinnung von Strom durch Kernenergie an. Ursächlich dafür sind Emissionen, die vor und nach der eigentlichen Stromgewinnung entstehen, etwa durch den Auf- und Rückbau von Kohlekraftwerken, die Lagerung von Atommüll oder beim Abbau von Uran.

Stichwort Uranabbau: ohne das Schwermetall läuft in der Kernenergie nichts. Und auch wenn es sich dabei um keinen seltenen Rohstoff handelt, sind die Vorkommen - je nach Berechnung - in wenigen Jahrhunderten oder gar Jahrzehnten erschöpft. Ein weiterer Aspekt, der das Argument der Nachhaltigkeit entkräftet.

Ein weiteres, bislang ungeklärtes Problem, das den Aspekt der Nachhaltigkeit konterkariert: Wohin mit dem hoch radioaktiven Atommüll, der bei der Stromgewinnung in Kernkraftwerken anfällt? Wie das "Handelsblatt" weiß, ist weltweit noch kein einziges Endlager erfolgreich in Betrieb genommen worden. In Deutschland lagern die atomaren Abfälle größtenteils in den Zwischenlagern Ahaus und Gorleben, wo es in der Vergangenheit immer wieder zu Problemen kam, etwa durch in den Salzstock eindringendes Wasser.

Sicherheit: Wenn etwas passiert, sind die Folgen fatal

Tschernobyl, Fukushima, Harrisburg: Immer wieder kam es in den letzten Jahrzehnten zu Reaktorunglücken, die Folgen der nuklearen Havarie sind bis heute ein Mahnmal der Gefahren der Kernenergie. Verfechter der Atomkraft sehen in ihr dennoch eine Möglichkeit der gefahrlosen Energiegewinnung. Der Verein Nuklearia, aus einer Arbeitsgruppe der Piratenpartei entstanden, lobt die angeblich "herausragende Sicherheitsbilanz" von Atomkraftwerken.

Dabei sprechen die Folgen der bisherigen Nuklearkatastrophen eine andere Sprache: Der "Deutschlandfunk" berichtet, dass Mediziner die Zahl der Toten, die durch die Spätfolgen der Katastrophe von Tschernobyl zu beklagen sind, auf bis zu 1,4 Millionen beziffern. Deutlich länger als die Lister tatsächlicher Reaktorkatastrophen ist die der zahllosen Pannen und Störfälle, die sich in Kernkraftwerken bis heute zutragen.

Nach Information des "Spiegel" wurde Frankreich in den Jahren 2021 und 2022 von einer regelrechten Pannenserie heimgesucht, die unter anderem die Abschaltung der vier leistungsstärksten Reaktoren des Landes zur Folge hatte. Zwei der Reaktoren waren gerade einmal 23 beziehungsweise 25 Jahre in Betrieb, gehörten also zur modernsten Generation.

Auch in Deutschland kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Störfällen: "Greenpeace" berichtet auf seiner Homepage etwa über ein explodiertes Rohr im Kraftwerk Brunsbüttel (2001) oder radioaktiv verseuchtes Wasser, das aus einem Reaktor in Philippsburg in die Umwelt gelangte (2004). Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland resümiert auch deshalb: "Atomkraftwerke sind niemals sicher". In Zeiten erhöhter Gefahr durch terroristische Angriffe oder Kriege gelte das mehr denn je.