Deutsches Frauenturnen
„Mein Körper schrie nach Essen“- Deutsche Turnerinnen sprechen von Erpressung und Ermüdungsbrüchen
1.1.2025, 20:20 UhrViele sehr erfolgreiche (ehemalige) deutsche Olympia-Turnerinnen haben sich in den letzten Tagen des Jahres 2024 auf ihren Instagramkanälen mit schockierenden Geschichten gemeldet. Jede erzählt von ihren eigenen erschreckenden Erlebnissen. Kritisiert wird der Deutsche Turner-Bund, der Schwäbische Turner-Bund und der Stützpunkt Stuttgart. Doch bei allen Athletinnen wird folgender Wunsch deutlich: Die Verantwortlichen müssen das System im deutschen Frauenturnen grundlegend verändern.
Dramatische Erlebnisse der deutschen Turnerinnen
"Ich wurde morgens, mittags und abends gewogen und wenn ich nur 200 Gramm zu viel auf der Waage hatte, wurde mir damit gedroht von Wettkämpfen oder Trainingslagern ausgeschlossen zu werden, unabhängig von meiner Leistung", berichtet die 28-jährige Kunstturnerin Janine Berger auf ihrem Instagramkanal. Über zehn Jahre litt sie unter einer Essstörung und die Verantwortlichen sollen ganz genau Bescheid gewusst haben. Bei den Olympischen Spielen in London im Jahr 2012 belegte sie als jüngstes Teammitglied mit gerade einmal 16 Jahren den 4. Platz und verlor aufgrund eines Kampfrichterfehlers ihre Medaille. Anstatt sie zu unterstützen, habe man ihr gesagt, dass ihr Gewicht schuld gewesen sein soll, obwohl sie damals nur acht Prozent Körperfett gehabt haben soll.
Im Jahr 2013 soll sie einen Brief erhalten haben, dass ihr Geld von 200 Euro aufgrund ihres Gewichts und ihrer Trainingseinstellung ausgesetzt werde, obwohl sie aufgrund ihrer guten Leistungen vom B- in den A-Kader berufen wurde. "Das ist meiner Meinung nach kein hartes Training, das ist Machtmissbrauch und systematisches Drängen in eine Essstörung", schreibt Berger. "Ich aß und kotzte alles wieder raus", heißt es weiter. Sie spricht davon, dass ihr Körper bei täglich sechs Stunden Training irgendwann zu schwach wurde. "Irgendwann schrie mein Körper nach Essen", betont sie. Im Jahr 2014 hat sie bei einem Wettkampf ihr Knie letztendlich völlig zerstört. In der Woche vor dem Unfall soll die Bundestrainerin sie mehrmals angerufen haben, ob ihr Gewicht endlich weniger werden würde.
"Wir wurden dazu erzogen, Schmerzen zu ignorieren"
Die ehemalige deutsche Turnerin Emelie Petz meldete sich drei Tage vor Heiligabend ebenfalls auf Instagram. Auch sie soll seit langem an Essstörungen leiden. "Meine Verletzung zeigte mir, dass einige Menschen nur an mir interessiert sind, wenn ich erfolgreich bin", schreibt sie in ihrem Post. 2023 musste sie ihre Karriere aufgrund einer Achillessehnenverletzung beenden.
Die Turnerin Tabea Alt belegte mit der deutschen Mannschaft bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro den 6. Platz im Teamfinale. Auf Instagram erzählt sie nun, dass sie bereits vor drei Jahren einen ausführlichen Brief an ihre Heimtrainer, die Bundestrainerin, den DTB-Präsidenten, den Teamarzt und an weitere Verantwortliche schrieb. Sie soll darin die Missstände in Stuttgart und im deutschen Frauenturnen aufgezeigt haben, aber auch explizite Lösungsvorschläge geliefert haben, wie sie sich in diesem Zusammenhang gerne einbringen möchte. Allgemein beschreibt sie die Missstände als "systematischen körperlichen und mentalen Missbrauch". "Wir wurden dazu erzogen, Schmerzen zu ignorieren, unsere eigenen Grenzen zu übergehen und zu glauben, dass unser Wert allein von unserer Leistung abhängt", schreibt Alt. "In all diesen Jahren hat man meine Gesundheit ganz gezielt und bewusst aufs Spiel gesetzt, indem man ärztliche Vorgaben missachtete und mich selbst mit mehreren Knochenfrakturen turnen ließ und in den Wettkampf schickte", betont die ehemalige Olympia-Turnerin. Auch sie fühlte sich mit ihren Verletzungen alleingelassen. "Meine Verletzungen haben gezeigt, dass ich menschlich gesehen keine Bedeutung hatte", schreibt sie auf Instagram. Grundsätzlich geht es ihr darum, dass die Verantwortlichen das System verändern, anstatt einzelne Personen zu beschuldigen.
"Als ich 17 Jahre als war, wurde von mir gefordert, dass ich innerhalb der nächsten Wochen 5-6 Kilogramm abnehmen muss", sagt die Turnerin Carina Kröll. Damals soll sie bei 1,64 Metern 52 Kilo gewogen haben, also ein komplett gesundes Gewicht. Bis 2022 turnte sie für Deutschland und wechselte anschließend zum österreichischen Verband.
Die ehemalige deutsche Turnerin Michelle Timm erlitt Ermüdungsbrüche in Schien- und Wadenbein. Aufgrund von ärztlichen Fehlentscheidungen soll sie monatelang mit sichtbaren, körperlichen Schäden trainiert haben. "Erst heute kann ich aussprechen, dass dieser Fehler das Ende meiner Karriere bedeutete", schreibt sie. Sie musste sich mehreren Operationen unterziehen. Wenig später flog sie aus dem geförderten Kader. Von einem auf den anderen Tag musste sie Reha, Studium, Job und Sport ganz allein regeln.
Was sagen die Verbände dazu?
"Der Deutsche Turner-Bund (DTB) wie auch der Schwäbische Turnerbund (STB) nehmen die öffentliche Debatte und die Vorwürfe zum Thema mentale Gesundheit von Leistungsturnerinnen und -Turnern sehr ernst. In diesem Zusammenhang liegen DTB und STB konkrete Informationen zu möglichem Fehlverhalten von Seiten verantwortlicher Trainer am Bundesstützpunkt in Stuttgart vor", sagten die betroffenen Verbände gegenüber dem "SWR". In einem weiteren Statement vom 31.12. zeigten sich DTB und STB "betroffen über die zahlreichen Äußerungen von Turnerinnen".
Gleichzeitig betonten die Verbände, dass "sämtliche Beschwerden und Hinweise ernst genommen und ihnen nachgegangen wurde und dies auch in Zukunft geschehen wird. Dies betrifft sowohl den Brief von Tabea Alt aus dem Jahr 2021 als auch beispielsweise die Meldung von Michelle Timm". Dass dies von den Turnerinnen "teilweise gänzlich anders wahrgenommen wird", bedauern DTB und STB. Angeblich habe es in der Vergangenheit zahlreiche Maßnahmen in Folge der Vorwürfe gegeben. Laut dem DTB sollen die Maßnahmen aufgrund der aktuellen Statements nun selbstkritisch unter die Lupe genommen werden.
Verein Athleten Deutschland
Der Verein Athleten Deutschland betont in einem Statement, dass die zahlreichen Anschuldigungen jetzt zügig aufgeklärt und aufgearbeitet werden müssen, um potenziell andauerndes Leid weiterer Athletinnen zu verhindern. Der Verein betont außerdem, dass das von dem Bundesministerium des Innern und für Heimat geplante unabhängige Zentrum für Safe Sport sehr dringend benötigt wird. Mit dem Zentrum für Safe Sport soll eine unabhängige Organisation geschaffen werden, die über die bisherigen Hilfsangebote hinausgeht und sich gezielt mit der Prävention, Intervention und Aufarbeitung von Gewalt im Sport befasst.
Auch die Umsetzung des kürzlich vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) verabschiedeten Safe Sport Codes müsse "nun zügig, insbesondere auch im Spitzensport" vorangetrieben werden.
Keine Kommentare
Um selbst einen Kommentar abgeben zu können, müssen Sie sich einloggen oder sich vorher registrieren.
0/1000 Zeichen