Pizzagate & Co.: Wie das Netz Verschwörungstheoretiker radikalisiert

Christian Urban

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20.2.2020, 19:58 Uhr

Am 4. Dezember 2016 drang ein Mann mit einem Sturmgewehr im amerikanischen Bundesstaat Washington, D.C. in die Pizzeria "Comet Ping Pong" ein. Er gab insgesamt drei Schüsse ab — zwei auf ein Türschloss, einen auf einen Computer. Nachdem er die Pizzeria durchsucht hatte, ließ er sich widerstandslos festnehmen.

Hintergrund der Tat war eine Verschwörungstheorie, die 2016 auf der Webseite 4chan entstanden war und danach gezielt von rechten Bloggern und zahlreichen Angehörigen von Donald Trumps Wahlkampfteam verbreitet wurde. Unter dem Schlagwort "Pizzagate" kursierte die Behauptung, dass aus der Pizzeria heraus ein Kinderporno-Ring betrieben werde, in den neben dem damaligen Präsidenten Barack Obama und der Sängerin Lady Gaga auch die damalige Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton verwickelt sei.

Das Internet ist voll von Ideen, die für die meisten Menschen nicht nachzuvollziehen sind — dennoch müssen diese Ideen nicht automatisch gefährliche Konsequenzen haben. So sind die Angehörigen der "Flat Earth Society", die der felsenfesten Überzeugung sind, die Erde sei eine Scheibe, im Normalfall vollkommen harmlos. Und doch können sich manche Menschen so sehr in Fake News und Verschwörungstheorien verlieren, dass sie zu Mördern werden.

So wie Wolfgang P., der im Oktober 2016 in Georgensgmünd einen SEK-Beamten tötete und zwei weitere schwer verletzte. Die Beamten wollten P. seine 30 Kurz- und Langwaffen abnehmen, weil er bekennender Reichsbürger war. Er vertrat also vehement die Überzeugung, dass Deutschland eine GmbH sei, die keine gültige Rechtsordnung und ihm gegenüber demzufolge auch keinerlei Befugnisse habe. Die Reichsbürgerbewegung ist eine der am weitesten verbreiteten Verschwörungstheorien im Internet.

Rechtsextremist und Antisemit

Auch Stephan Balliet, Rechtsextremist und der mutmaßliche Attentäter von Halle, war Anhänger verschiedener antisemitischer Verschwörungstheorien. Am 9. Oktober 2019 wollte er möglichst viele Juden töten, weil er der Überzeugung war, dass sie unter anderem hinter der muslimischen Einwanderung nach Europa steckten. Als er an der Sicherheitstür der Synagoge im Paulusviertel scheiterte, erschoss er stattdessen zwei Menschen außerhalb der Synagoge und verletzte zwei weitere.

Nun hat offenbar wieder ein Mensch getötet, der in einer Welt lebte, die für andere kaum zu verstehen ist. Tobias R., der in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag in Hanau neun Menschen, seine Mutter und schließlich sich selbst erschossen haben soll, hatte sich sein Weltbild aus einem ganzen Sammelsurium verschiedenster Verschwörungstheorien zusammengebastelt — gespeist offenbar zu einem großen Teil durch YouTube-Videos.

Menschen mit psychischen Erkrankungen oder zumindest Anfälligkeiten gab es schon immer. Die Strukturen der sozialen Netzwerke machen es diesen Menschen jedoch leicht, sich in einer Welt voller Verschwörungen zu verlieren. Insbesondere auf der Video-Plattform YouTube kann man durch die Autoplay-Funktion leicht hängenbleiben: Nach dem Ende eines Videos beginnt nach einigen Sekunden ein weiteres, das thematisch einigermaßen passt.

So kann man sich nächtelang ohne auch nur einen einzigen weiteren Klick durch die gesamte Welt der Verschwörungstheorien bewegen. Und schließlich landet man in einer Filterblase, in der nichts mehr wirklich real ist - abgesehen von dem Wirklichkeitskonstrukt im eigenen Kopf. Dem Attentäter von Hanau ist offenbar genau das passiert.

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