Essay

Schneewittchen und die tausend "Hater": Social-Media-Nutzer ätzen gegen Neuverfilmung

Johannes Lenz

Nordbayern-Redaktion

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23.8.2023, 06:00 Uhr
1937 stand Schneewittchen noch am Herd, um die fleißigen Zwergen-Männer zu bekochen, knapp 90 Jahre später kündigt "Nachfolgerin" Rachel Zegler eine Neuerzählung des Märchens an.

© IMAGO 1937 stand Schneewittchen noch am Herd, um die fleißigen Zwergen-Männer zu bekochen, knapp 90 Jahre später kündigt "Nachfolgerin" Rachel Zegler eine Neuerzählung des Märchens an.

Ein Schneewittchen, das sich nicht schmachtend dem Prinzen in die Arme wirft, und sieben Zwerge, die gar keine sind: Wenn im Frühjahr 2024 die Neuverfilmung des Grimm-Märchens "Schneewittchen und die sieben Zwerge" ins Kino kommt, dürfte der Film für viel Furore und gespaltene Meinungen sorgen. Denn Fans der traditionellen Erzählung werden enttäuscht sein: Sie erwartet eine Neuerfindung der Geschichte am Puls der Zeit. Auf Social Media erntet die Neuinszenierung schon jetzt heftige Kritik - mehr als ein halbes Jahr vor der Premiere. Wie das sein kann? Den Gegnern geht um etwas viel Größeres als den Film.

Via sozialer Netzwerke kann jeder (ungefragt) seine Meinung kundtun, auch wenn er noch so wenig Ahnung von der Materie hat: Während großer Fußballturniere werden die User von "X", Instagram & Co. zu Teilzeit-Bundestrainern, die Hansi Flick und seinem Stab wertvolle Tipps für die Mannschaftsaufstellung und die Taktik an die Hand geben. Ähnlich groß ist die Hilfsbereitschaft der Hobby-Meteorologen, die in den Kommentarspalten unter Nachrichten zum Klimawandel mit geballter Expertise sinngemäß feststellen: "Alles nicht so schlimm, im Sommer ist es nun mal heiß." Vielen Dank, Problem gelöst.

Von den ungefilterten Meinungsergüssen auf Social Media bleiben auch kulturelle Ereignisse nicht verschont. Selbst vergleichsweise banale zeitgeschichtliche Erscheinungen wie Kinofilme werden schnell zum Gegenstand hitziger Online-Debatten. So wurde im Jahr 2016 das Remake des 80er-Jahre-Klassikers "Ghostbusters" zur Zielscheibe des wütenden Internet-Mobs, der sich daran störte, dass in dem Streifen vier Frauen auf Geisterjagd gehen. Jetzt ist die Neuverfilmung des Märchenklassikers "Schneewittchen und die sieben Zwerge" ins Visier der Community geraten.

Hauptdarstellern: Nicht "weiß" genug?

In der Disney-Produktion spielt Latina-Schauspielerin Rachel Zegler die Hauptrolle. Für die Märchen-Polizei auf "X" ein absolutes No-Go: In der ursprünglichen Erzählung habe die Protagonistin ihren Namen schließlich von ihrer "Haut, weiß wie Schnee". Vereinzelt ist von der erbosten Feststellung zu lesen, die Original-Literatur werde "verfälscht". Ob die Traditionalisten auch jedes Mal vor Wut schäumen, wenn sie den weißen Franzosen Pierre Brice als Winnetou in den legendären Verfilmungen der Karl-May-Bücher sehen?

Hauptdarstellerin Rachel Zegler steht zusätzlich in der Kritik, weil ihr vorgeworfen wird, dass sie das Märchen von Schneewittchen "hassen" würde. Immer wieder ist in sozialen Netzwerken ein Video-Ausschnitt zu sehen, indem sie zur Neuverfilmung befragt wird. Darin äußert sie sich kritisch gegenüber der Zeichentrick-Version Disneys aus dem Jahr 1937 - sie lacht, als sie behauptet, dass der Prinz Schneewittchen "stalkt", und bezeichnet das Verhalten des Prinzen als "befremdlich".

Neuerfindung einer klassischen Liebesgeschichte

In einem anderen Interview sagt sie, dass sie den Cartoon aus dem Jahr 1937 "gruselig" fand. In der Neuverfilmung liege der Fokus jedenfalls nicht auf der klassischen Liebesgeschichte zwischen Schneewittchen und dem Prinzen. Vielmehr gehe es um den Wunsch der jungen Frau, eine starke Anführerin zu sein.

Aber ob man Zegler deswegen gleich Hass gegenüber der ursprünglichen Geschichte vorwerfen muss? Vielmehr wirkt diese Unterstellung wie eine hilflose Reaktion derer, die es nicht wahrhaben wollen, dass die Zeiten sich ändern und alte Stereotype Stück für Stück nicht nur aus der Gesellschaft, sondern auch von der Leinwand verschwinden.

Kern der Kritik: progressive Ideen treffen auf traditionalistische Weltbilder

Entwicklungen wie diese sind es, an der sich die meisten Kritiker im Internet stören. Auch die Besetzung der "Sieben Zwerge" - die im Film nicht mehr als "Zwerge", sondern als "magische Kreaturen" bezeichnet werden, um kleinwüchsige Menschen nicht zu diskriminieren - schlägt in den sozialen Medien hohe Wellen: Eine Frau und ein schwarzer Schauspieler wurden für die Rollen zweier "magischer Kreaturen" gecastet. Nur eine "Kreatur" wird von einem kleinwüchsigen Schauspieler verkörpert.

Dabei steht die Debatte um das neue "Schneewittchen" nur stellvertretend für einen Konflikt, der in unserer Gesellschaft seit geraumer Zeit schwelt und sich immer wieder auch an Bagatellen entlädt: Traditionalistische - und teils schlicht veraltete - Weltsichten prallen auf progressive Ansätze. Themen wie Emanzipation und Gleichstellung, Inklusion und Diversität sind vielen noch komplett fremd, während sie anderen gar nicht schnell genug angegangen werden können. Die Reaktionen auf "Schneewittchen" zeigen das besonders eindrücklich.

Sicher ist wohl: Bis zum kommenden Frühjahr wird sich die Debatte immer wieder an (vermeintlich) mehr oder weniger relevanten Anlässen entzünden. Vollends entflammen wird sie spätestens dann wieder, wenn Rachel Zegler im schneeweißen Kleid auf den Leinwänden der Welt erstrahlt.