"Triage" heißt der Vorgang, Patienten zu priorisieren - bei Katastrophen und Notfällen steht diese Überlegung immer im Raum, nicht nur in Corona-Zeiten. Doch die Ärzte und Pflegekräfte sind auf diesen Extremfall vorbereitet - durch Empfehlungen des Ethikrats und sieben medizinischer Fachgesellschaften. Der Kern: Wenn es zur Überlastung des Systems kommt, soll nach medizinischen Erfolgsaussichten entschieden werden - der allgemeine Gesundheitszustand der Patienten wird eine Rolle spielen und der Schweregrad der Erkrankung.
Dies entspricht der Rechtslage: Menschenleben dürfen in Deutschland nicht gegeneinander abgewogen werden: "Im rechtsfreien Raum handeln die Ärzte nicht", bestätigt Hans Kudlich. Er hat an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie inne und weiß: Die deutsche Rechtsprechung ist eindeutig. Kein Mensch darf zugunsten eines anderen Menschen geopfert werden. Dies hieße doch, ein Chirurg könnte, um seinen eigenen herzkranken Sohn zu retten, willkürlich einem anderen Patienten das Organ entnehmen.
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Menschenleben können nicht gegeneinander aufgewogen werden
Doch ein Leben ist genau so viel wert, wie mehrere Leben. Die juristischen Lehrsätze hierzu hat Professor Kudlich schon einigen Generationen von Rechtstudenten in Vorlesungen und Seminaren erläutert. So beschloss das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2012: Unter strengen Auflagen sind Einsätze der Bundeswehr im Inneren erlaubt - doch verlangt sind Tatsachen katastrophischen Ausmaßes. Der Abschuss eines Flugzeugs, besetzt mit Passagieren, entführt von Terroristen, die es absichtlich als Waffe einsetzen, und es auf ein Atomkraftwerk lenken, blieb verboten. Auch einer der berühmt-berüchtigtsten Kriminalfälle der bundesdeutschen Justizgeschichte macht klar: Die Rettung von Menschenleben rechtfertigt es nicht, an andere Menschen Hand anzulegen - Stichwort Folterverbot.
Im Jahr 2002 blickte halb Deutschland auf den ehemaligen Vizepräsident der Frankfurter Polizei, Wolfgang Daschner. Auf der Polizeiwache saß ein Entführer, er hatte einen elfjährigen Jungen versteckt. Da offen war, ob der Bub noch lebt, wies Daschner einen anderen Polizisten an, dem Entführer mit unerträglichen Schmerzen zu drohen, um das Kind zu finden. Doch der Junge war bereits tot. Später stellte die deutsche Justiz das Unrecht des Verhaltens Wolfgang Daschners und des weiteren Polizisten fest, sprach beide wegen Aussageerpressung und Nötigung schuldig und verwarnte sie, verhängte aber keine Strafe. Zehn Jahre nach dem Mord erstritt der Täter wegen der Folterandrohung eine Entschädigung von 3000 Euro. Auch hier zeigt sich: Leben dürfen nicht gegeneinander abgewogen werden.
Pflichtenkollision: Wenn man nur Einen retten kann
Doch, so erklärt Hans Kudlich, Unmögliches darf die Rechtsordnung auch nicht verlangen. Ein Beispiel aus dem Lehrbuch verdeutlicht: Wer vor einem brennenden Haus steht, und im rechten Flügel den Vater und auf der linken Seite die Mutter verbrennen sieht, kann nicht beide Menschen retten.
Das Strafrecht kennt hierfür die Figur der "Pflichtenkollision", sie kann die unterlassene Rettung eines der Elternteile rechtfertigen oder zumindest entschuldigen: Wenn es tatsächlich nur möglich ist, eine von zwei Pflichten zu erfüllen - hier also die Rettung eines Elternteils - kann die Vernachlässigung, die unterlassene Hilfe, nicht vorgeworfen werden. Die Überlegungen aus dem Lehrsaal der Juristen werden relevant, geht es um die Zuteilung gespendeter Organe - und in diesen Tagen ist in der Notfallmedizin von "Triage" die Rede.
Klinisch-ethischer Leitfaden soll Entscheidungen erleichtern
Das Wort stammt vom französischen Verb "trier" für sortieren, stammt aus der Militärmedizin und meint die Kriterienkataloge der Entscheidungsprozesse - für die Mediziner, die auswählen, welcher Patient beatmet wird. Eine kaum vorstellbare, emotionale Belastung. "Niemand mag alt gegen jung oder reich gegen arm abwägen. Und wer sagt denn, dass ein 65-jähriger Gärtner nicht fitter ist als ein eher unsportlicher Hochschullehrer wie ich?" kommentiert Hans Kudlich.
Um die Betroffenen zu entlasten, gibt es besagte Kriterienkataloge - gerade haben mehrere medizinische Fachgesellschaften klinisch-ethische Empfehlungen verabschiedet. Nur so muss nicht der einzelne Mediziner über die Reihenfolge der Behandlung Schwerstkranker entscheiden. Der Kern: Mit den begrenzten Ressourcen soll möglichst vielen Patienten in der Krise geholfen werden. Doch nicht nur in Corona-Zeiten wird das Thema diskutiert, wie die Forschungsarbeit von Eric Hilgendorf, Professor an der Universität Würzburg, zeigt: Einer seiner Arbeitsschwerpunkte liegt auf dem Gebiet der Rechtsinformatik. Hier werden im Zusammenhang mit autonom fahrenden Autos Antworten auf Fragen juristischer Grundlagenprobleme gesucht.
Wie soll künftig der Bordcomputer einer selbstfahrenden Limousine entscheiden? Dem Auto selbst fehlt die Fähigkeit zum eigenverantwortlichen Handeln, die Lösung muss vorher programmiert werden. Soll das Auto, um nicht auf einen mit fünf Personen besetzten Pkw zu krachen, lieber ein einzelnes Kind auf dem Gehweg überrollen? Eine Auswahl möglicher Unfallopfer - der Kluge gegen den Dummen, der Arme gegen den Reichen, verstieße gegen das Gesetz. Noch ist offen, wie die Hersteller diese Probleme lösen. Eine diskutierte Idee: den Bordcomputer mit einem Zufallsgenerator ausstatten.