"Nur die Mutigen haben Glück"

Ukrainische Sanitäterin in Charkiw bei Angriff getötet - sie hinterlässt bewegenden Abschiedsbrief

Carolin Heilig

Volontärin

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1.6.2024, 18:27 Uhr
Soldatengräber in der Region Charkiw.

© IMAGO/ABACAPRESS Soldatengräber in der Region Charkiw.

Den letzten Post auf ihrem Instagram-Profil machte Iryna Tsybukh am 23. Mai. Die traurige Gewissheit lautet: Auf diesem Profil wird nie wieder ein Beitrag erscheinen, denn die 25-jährige ukrainische Sanitäterin wurde am 29. Mai bei einem russischen Angriff in der Region Charkiw im Nordosten der Ukraine getötet. Aber etwas von ihr bleibt. Tsybukh hinterließ einen handgeschriebenen Abschiedsbrief, den ihr Bruder Jurij nun über die sozialen Medien veröffentlichte.

Den Brief verfasste sie bereits am 8. April 2023. Damals hielt sie sich in Donezk auf. Der Text beginnt mit den Worten: "Hallo, mein Beileid, ich mag dich nicht traurig sehen [...] Verschwende keine Zeit mit Leiden, lebe weiter." Es habe in diesem Jahr schon so viele Gelegenheiten gegeben zu sterben, daher habe sie beschlossen den Brief zu formulieren.

Die 25-Jährige beschreibt, wie sie sich im Krieg und im Angesicht des Todes verändert habe: "Heute und für immer ist es mir egal, was die Leute über mich sagen, über dich, über diesen Text, über alles. Endlich interessiert mich die Meinung von niemandem, ich bin tot."

Das Schreiben helfe ihr, mit der Angst fertig zu werden: "Der Krieg hat mich gezwungen aufzuhören, ein Sklave der Ängste zu sein, heute konnte ich mich leider nicht komplett befreien, aber ich hoffe, ich schaffe es, dieser Brief ist so hilfreich."

An ihre Familie richtet sie liebevolle Worte: "Vor allem möchte ich mich bei Eltern, Bruder, Familie und Freunden bedanken. Danke, dass ich frei sein durfte, das Leben zu leben, das ich mir wünsche." Besonders ihr Bruder liegt ihr offenbar am Herzen: "Wenn ich die Möglichkeit habe, werde ich dich vom Himmel aus unterstützen", schreibt sie ihm.

Der Brief endet mit eindringlichen Worten: "Um die Kraft zu haben, ein freier Mensch zu sein, muss man mutig sein. Denn nur die Mutigen haben Glück und es ist besser auf der Flucht zu sterben, als zu verrotten."

Mit Verdienstorden ausgezeichnet

Tsybukh hatte durch Medienauftritte Bekanntheit erlangt. Sie berichtete von ihren Erfahrungen aus dem Krieg oder nahm an öffentlichen Diskussionen zur Rolle der Frau an der Front und zum richtigen Gedenken an Soldaten teil. Präsident Wolodymyr Selenskyj verlieh ihr im November 2023 einen Verdienstorden für ihre Arbeit als Sanitäterin.

Bereits seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 arbeitete sie immer wieder im Kriegsgebiet. Mit dem Angriff der Russen 2022 auf das gesamte Staatsgebiet der Ukraine meldete sie sich freiwillig und arbeitete seither dauerhaft als Sanitäterin.

Am 1. Juni postet Bruder Jurij erneut ein schwarz-weiß-Foto von sich und seiner Schwester. An diesem Tag wäre Tsybukh 26 Jahre alt geworden. Er schreibt: "Ich habe noch keinen stärkeren, stärkeren, mächtigeren Menschen getroffen." Und: "Wir waren füreinander da und das ist das Wertvollste."

Erneute Angriffe auf Charkiw

Erst am Freitag wurden bei russischen Raketenangriffen in Charkiw erneut mindestens fünf Menschen getötet. Mehr als zwei Dutzend seien verletzt worden, teilte Gouverneur Oleh Synjehubow mit. Der Großteil der Opfer lebte in einem fünfstöckigen Wohnhaus. Durch die Angriffe wurden auch ein Feuerwehr- und ein Ambulanzfahrzeug beschädigt. Den Angaben zufolge gab es infolge des Angriffs Schäden an mindestens 20 Wohnhäusern. Das russische Militär habe fünf Raketen auf die Großstadt abgefeuert.

Im Original ist der Brief auf Ukrainisch verfasst. Die hier übersetzen Zitate können in der Wortwahl minimal abweichen.

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