Stundenlanges Starren

Verbote, Vorteile, Risiken: Das hat es mit dem Trend „Rawdogging“ auf sich

Sara Denndorf

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12.8.2024, 16:50 Uhr
Die Zeit im Flugzeug verbringen viele Menschen mit Musik, Büchern oder Serien. Ein neuer TikTok-Trend stellt nun extreme Langeweile in den Fokus.

© Silas Stein/dpa Die Zeit im Flugzeug verbringen viele Menschen mit Musik, Büchern oder Serien. Ein neuer TikTok-Trend stellt nun extreme Langeweile in den Fokus.

Man kann Musik hören, seinem liebsten Podcast lauschen, das Film-Angebot im Sitzfernseher durchstöbern, Gelegenheitsspiele am Smartphone zocken, sich unterhalten, Zeitung lesen, ein Buch verschlingen – oder einfach stundenlang starr ins Leere blicken. Denn genau das machen Menschen, vornehmlich junge Männer, die den neuen Trend zum "Rawdogging" auf längeren Zugfahrten oder Flugreisen praktizieren.

Was genau ist Rawdogging?

Konkret geht es darum, ein möglichst pures Erleben einer Alltagssituation zu gewährleisten, wobei jegliche Ablenkung verboten ist. Die "Rawdogger" verzichten also im Flugzeug oder im Fernzug freiwillig auf jegliche Form von Unterhaltungsmedien, auf Gespräche, mitunter gar auf Essen und Trinken. Sie blicken für die gesamte Flug- oder Fahrtzeit starr, ausdruckslos und apathisch vor sich ins Leere, auf eine Informationsseite mit Sicherheitshinweisen oder auf die Standard-Landkarte, welche in Flugzeugen oftmals eingeblendet wird.

Kurz: Die Menschen versetzen sich selbst in einen Flugmodus und schieben jeglicher Form von Berieselung und Ablenkung temporär einen Riegel vor. Haben die Männer dann die quälende Langeweile nach mehreren Stunden überstanden, berichten sie stolz von ihren Leistungen auf TikTok oder Instagram. "Unglaublich. Die Stärke meines Geistes kennt keine Grenzen", schrieb etwa ein User.

Unter dem Hashtag "#rawdogging" findet sich eine Vielzahl an Videos, welche junge Männer beim Aushalten extremer Langeweile im Flugzeug zeigen. Der Reisetrend aus den USA erobert also ganz TikTok, verfügt bereits über eine große Fangemeinde – und gewann zuletzt einen prominenten Verfechter. Erling Haaland, Starstürmer von Manchester City, teilte Anfang August ebenfalls eine Instragram-Story mit dem Kommentar: "Ich habe gerade einen 7-Stunden-Flug mit Raw Dogging verbracht."

Wofür soll Rawdogging gut sein?

Doch was bringt Haaland und Co. dazu, Langeweile bewusst herbeizuführen und einen Flug so unangenehm wie möglich zu gestalten? Letztendlich ist der Trend ein weiteres Symptom für die Suche nach Achtsamkeit und Selbstfürsorge. In einer digitalen, reizüberfluteten Zeit, in welcher Ablenkung und Dopamin mit jedem Klick warten, stellt das Anti-Genuss-Phänomen eine gänzliche Gegenbewegung dar. Dabei geht es insbesondere darum, die Selbstkontrolle zu trainieren und die eigene Willenskraft zu prüfen.

Und tatsächlich: Diverse Experten zeigen sich begeistert von der neuen TikTok-Challenge. Neurobiologe Martin Korte erklärte gegenüber "zdfheute" die Vorzüge der strikten Verhaltensweise: "Man kommt selber auf andere Gedanken und man kann auch zeigen, dass wir mehr kreative Ideen haben, wenn wir gerade nicht auf Bildschirme schauen." So entstünden neue Ideen nicht einfach nebenbei, sondern nur, "wenn man den eigenen Gedanken Raum gibt". Dies sei allerdings inzwischen eine Seltenheit: Die Menschen neigen dazu, sich durch leichte Reize schnell ablenken zu lassen und damit den Durst nach kurzfristigen Belohnungen zu stillen, so Korte.

Das "Rawdogging" indes funktioniert analog zum Dopaminfasten: Durch den zeitwilligen Reizentzug wird vorübergehend eine geringere Menge des Glückshormons ausgeschüttet, sodass das überreizte Belohnungssystem wieder ins Gleichgewicht kommt. Laut dem Wissenschaftsmagazin "Quarks" führt dieses Fasten zu einer intensiveren Wahrnehmung von Glücksgefühlen.

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Das "Rawdogging" zielt weniger auf das Erleben von Glücksgefühlen, sondern eher auf Kreativität ab. "Wenn wir uns eine Auszeit von unserem Handy oder anderen Reizen gönnen, können wir unsere Gedanken schweifen lassen, was zu neuen Ideen und Kreativität führen kann", erklärte Dr. Sandi Mann gegenüber der "Daily Mail". Dies funktioniert laut dem Langeweile-Experten der Universität Lancashire, indem das Gehirn die neuronale Stimulation liefere, welches der äußeren Umgebung in derartigen Situationen fehle. "Das Feuern von Netzwerken und Verbindungen, das Springen von Ideen zu Bildern zu Gedanken wird weniger bewusst. Wir kontrollieren nicht mehr, wohin unser Gehirn geht. Dies ermöglicht es uns, die Dinge auf neue Weise zu sehen und neue Ideen zu entwickeln."

Kann "Rawdogging" auch gefährlich sein?

Allerdings fällt nicht die Einschätzung aller Experten zur neuen TikTok-Challenge grundsätzlich positiv aus. Reiseexperten der Website "Netflights" warnen vor dem Trend zum "Rawdogging" und raten laut der "Daily Mail" zu Entspannung und Schlaf während des Fluges. Damit könne man einen Jetlag bekämpfen, wohingegen ein Verzicht auf Unterhaltung und Ruhe dem Körper die Chance zur Erholung entziehen könne. Die Experten betonen: "Nichtstun kann den Stresspegel erhöhen, weil die Passagiere mehr nachdenken und sich Sorgen machen." Stattdessen solle man das Unterhaltungsprogramm im Flugzeug nutzen, um sich zu entspannen und den Flug zu genießen.

Ein zweiter Kritikpunkt betrifft das Risiko der Dehydrierung: "Rawdogger", die besonders streng mit sich sein wollen, verzichten während des Flugs nicht nur auf Unterhaltung, sondern auch auf das Stillen menschlicher Grundbedürfnisse. "Auf Essen, Trinken und Toilettengänge zu verzichten, ist Selbstquälerei und kann destabilisieren", erklärte der Meditationsforscher Ulrich Ott der "Welt". Weitere Experten betonen die Bedeutung von ausreichender Flüssigkeitszufuhr im Flugzeug: Aufgrund des niedrigen Sauerstoffdrucks und der veränderten Luftfeuchtigkeit verliert der menschliche Körper während des Flugs mehr Wasser als am Boden. Wer also nichts oder zu wenig trinkt, muss mit Kopfschmerzen, Schwindel und Müdigkeit rechnen.

Im Rahmen des "Rawdoggings" im Flugzeug nichts zu trinken, ist dann nicht nur gesundheitsschädlich, sondern nach Ansicht vieler Experten auch Indiz für die falsche Interpretation des Trends: Was eigentlich der Selbstfürsorge dienen soll (und darin auch nach Einschätzung von Psychologen wirksam sein kann), mutiert zu einem Akt der Selbststählung – und zu einer Ausdrucksform toxischer Männlichkeit. "Männer mögen Herausforderungen", sagte Michael Ceely gegenüber "CNN" und führte fort: "Es ist definitiv gesellschaftsfähiger für Männer, mit so etwas zu prahlen. Es ist eine säuerliche Praxis, aber sie wird mit Bro-Sprech gebrandmarkt." Aus Sicht des Psychologen gehe es beim "Rawdogging" für viele Männer eher um das anschließende Prahlen über die Leistung als um das eigentlich meditative Element, nämlich das Aussitzen der Leere. Damit konterkariere "Rawdogging" den eigentlichen Zweck der Achtsamkeit.

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