Debakel in Kabul

Afghanistan: Hochmut des Westens kam vor dem tiefen Fall

Alexander Jungkunz

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18.8.2021, 06:44 Uhr
Erste Pressekonferenz der neuen Machthaber in Kabul: Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid (links) in der afghanischen Hauptstadt.

© HOSHANG HASHIMI, AFP Erste Pressekonferenz der neuen Machthaber in Kabul: Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid (links) in der afghanischen Hauptstadt.

Diese Bilder werden sich einprägen, und sie sind keine Werbung für das, was sich bisher "Der Westen" nannte: Der fluchtartige Rückzug der Alliierten aus Afghanistan ist ein Debakel für jene Wertegemeinschaft, die vorhatte, aus dem Land mal so eben einen Rechtsstaat samt Demokratie nach ihrem Gusto zu bauen.

Eigene, leidvolle Erfahrungen

Dabei hätten die Demokratien Europas und Amerikas - die ja diesen "Westen" bilden - aus eigener, leidvoller Erfahrung wissen müssen, wie schwer so ein Staatsaufbau ist. Selbst dann, wenn er aus eigenem Willen einer Nation angestrebt und nicht, wie dies in Afghanistan eher der Fall war, von außen übergestülpt wird.

Vor genau 125 Jahren unterzeichnete der Kaiser das BGB

Es gibt ein aktuelles Jubiläum, das zeigt: Es ist ungeheuer zäh, einen Rechtsstaat auf die Beine zu stellen. Vor genau 125 Jahren, am 18 August 1896, unterzeichnete der deutsche Kaiser Wilhelm II. das Bürgerliche Gesetzbuch, das dann als BGB ab 1. Januar 1900 im Kaiserreich galt - und bis heute in Kraft ist.

"Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt." So lautet der erste von insgesamt 2385 Paragraphen des BGB. Und schon dieser selbst heute noch nicht ganz selbstverständliche Satz (siehe den Streit um Kinderrechte) zeigt, welchen Fortschritt dieses Gesetzeswerk bedeutete.

Abkehr von Standesrecht mit Privilegien

Zum einen: einheitliches Recht für ein Land - anstelle höchst unterschiedlicher Regelungen, die vorher Handel und Wirtschaft blockierten. Zum anderen: die Abkehr von unterschiedlichem Recht für vermeintlich unterschiedliche Gruppen - kein Standesrecht mehr mit Privilegien für den Adel oder mehr Rechten für Reiche.

Nein, jeder Bürger war vor dem Recht ab da gleich. Theoretisch. Jede Bürgerin war zum Beispiel nicht gleich: Die Gleichberechtigung der Frau wurde erst ab 1953 ins oftmals aktualisierte BGB hineingeschrieben. In der Weimarer Republik floss der Schutz von Schwächeren ins Miet- und Arbeitsrecht ein. Die Nationalsozialisten wollten das ihnen zu liberale BGB ersetzen durch ein völkischeres "Volksgesetzbuch", das schafften sie zeitlich nicht.

Recht passt sich Zeit und Gesellschaft an

All das zeigt: Recht ist veränderbar, es passt sich Zeit und Gesellschaft an. In Polen und Ungarn setzen Regierungsmehrheiten auf Recht, das mit internationalen Maßstäben von Menschenrechten bricht. In Afghanistan sind die Taliban drauf und dran, die angeblich gottgewollte Scharia durchzusetzen - gnadenloses Recht, das tötet und foltert.

Bange Frage: Was, wenn dies die Staatsform ist, die nicht wenige in der Stammes-Gesellschaft Afghanistans eben nicht so selbstverständlich ablehnen wie wir, sondern sogar befürworten?

Spärlich gesäte Saat der Freiheit

Natürlich ist zu hoffen, dass die (spärlich gesäte) Saat der Freiheit aufgeht am Hindukusch. Aber der Rückblick auf die auch bei uns mühsam erkämpfte, oft bedrohte Rechtsstaatlichkeit zeigt: Wir haben keinerlei Grund für Hochmut. Der kam auch diesmal - vor einem besonders tiefen Fall.

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