America the beautiful: Joe Biden steht für das schöne Amerika
20.1.2021, 18:46 UhrÜber Donald Trump ist viel Böses geschrieben worden, das meiste davon wahrscheinlich zu Recht. Und doch haben er und seine Anhänger mit ihrem Sturm aufs Kapitol den Deutschen einen Lagerfeuermoment beschert. Einen jener in Zeiten moderner Gesellschaften selten gewordenen Momente also, in denen in einem Volk von Individuen so etwas wie ein wohliges Gemeinschaftsgefühl entsteht.
Bloß dass das einigende Element in diesem Fall die Geringschätzung war, mit der viele in Deutschland gerne auf die Vereinigten Staaten blicken, dieses vermeintliche Land der Ignoranten. Eine Geringschätzung, aus der manchmal auch unverhohlene Überheblichkeit spricht, wie im vermessenen Vorstoß des deutschen Außenministers, mit den USA „einen Marshallplan für Demokratie“ erarbeiten zu wollen.
Wir sind bereit, mit den USA an einem gemeinsamen Marshallplan für die Demokratie zu arbeiten. (1/3) https://t.co/TxsQVXviDl
— Heiko Maas 🇪🇺 (@HeikoMaas) January 9, 2021
Mit Joe Bidens Amtseinführung sind die Zeiten für all jene, die sich mit Spott über die USA der eigenen vermeintlichen Größe vergewissern mussten, wieder schwieriger geworden. Nicht, weil die Probleme dieser Supermacht im Niedergang gelöst wären. Vielmehr weil an deren Spitze kein Reality-TV-Star mehr steht, der mit seinem Prahlen und seiner Geltungssucht wie eine Karikatur seiner selbst wirkt, sondern ein Mann, der Trumps Gegenbild, ja ein Vorbild darstellt: Joe Biden.
Dessen Geschichte erzählt viel über die Art Mensch, die er ist. Als Biden, mit 30, seine Frau und seine Tochter bei einem Autounfall verliert, lässt er sich von diesem Schicksalsschlag nicht brechen. Als er, mit 72, auch noch seinen Sohn zu
Grabe tragen muss, bewahrt er sich seine Zuversicht und Beharrlichkeit – weit amerikanischere Werte als die Reflexe von Wut und Angst, auf die Trump setzte. Joe Biden, er repräsentiert in vielerlei Hinsicht das schöne Amerika, America the beautiful.
Ideologie – und kleingeistige Angst
Und doch scheint der neue US-Präsident zum Scheitern verurteilt. Als Versöhner tritt er an, in einer Zeit der Unversöhnlichkeit, in der der Alltag eines Amerikaners in den oft darbenden Landstrichen des Kontinents kaum noch etwas zu tun hat mit dem meist pulsierenden Leben in den Küstenmetropolen. Ja, vieles spricht zwar für Joe Biden als Versöhner dieser beiden Amerikas: Jahrzehntelang hat er sich um Zusammenarbeit mit den Republikanern bemüht, Ideologie ist ihm stets fremd gewesen.
Deshalb taugt Biden nur bedingt als Hassfigur für Amerikas Rechte. Ängste wie auf Barack Obama, einen Schwarzen mit muslimisch klingendem Namen, lassen sich auf ihn jedenfalls nicht projizieren. Und dennoch droht Biden, was Obama erlebte: eine Total-Opposition der Republikaner im Kongress – und ein Fortdauern der erbittert geführten Kulturkämpfe um Waffen, die Rechte von Minderheiten und die Geschichte des Landes.
Was hierzulande übersehen wird: Geschuldet ist die Haltung der Republikaner nicht immer ideologischem Furor, sondern oft der kleingeistigen Angst um den eigenen Parlamentssitz. Einem Republikaner, der mit einem demokratischen Präsidenten kooperiert, dem droht erst das Fegefeuer der rechten Radiomoderatoren und Fernsehkommentatoren und dann ein von deren Gnaden entsandter Gegenkandidat aus der eigenen Partei bei der nächsten Wahl. Dazu kommt, dass in den Reihen der Republikaner längst klügere – und damit für die Demokratie weit gefährlichere – Männer als Trump registriert haben, wie einen eine populistische Agenda ins höchste Staatsamt der Vereinigten Staaten katapultieren kann.
Biden wird US-Präsident: Obamas dritte Amtszeit?
Zur Wahrheit gehört: Auch auf den Seiten der Demokraten wächst der Einfluss der Unversöhnlichen, erst recht mit dem Aufstieg der jungen, stramm linken Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez, der charismatischsten Demokraten-Politikerin seit Obama. Auch ihr Aufstieg begann mit dem Sturz eines Etablierten von seinem scheinbar angestammten Parlamentssitz – ein Menetekel für Gemäßigte.
Den Mythos entsorgen?
Ist es angesichts der Gräben, die sich immer weiter auftun, also Zeit, „den Mythos zu entsorgen“, wie Barack Obama jüngst in seinen Memoiren fragte, den Mythos von Amerika und seinen Idealen von Freiheit und Demokratie, hinter denen die Realität so oft zurückbleibt? Dann wäre Bidens Mission einer Versöhnung ob ihrer Aussichtslosigkeit also nicht der Mühe wert. Es wegen der Widrigkeit eines Unterfangens gar nicht versucht zu haben, wäre für Biden wie Obama aber unamerikanisch. Er sei, so schreibt es Obama – und das trifft zweifellos auf seinen Freund Joe Biden zu –, noch nicht bereit, „die Möglichkeit von Amerika aufzugeben“.
Diese TV-Sender übertragen die Amtseinführung live
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