Bombe im Rucksack
Anschlag bei den Ansbach Open 2017: Eine Stadt hat seine Unbeschwertheit verloren
18.7.2017, 14:12 UhrDrei bis vier Meter weiter drüben, also genau da, wo jetzt der kleine runde Tisch steht, da ist es passiert. Norbert Imschloß kann sich auch fast ein Jahr später noch an jedes Detail erinnern und wird die unheimliche Szenerie so schnell auch nicht vergessen. Mit Küchentüchern hat er versucht, die sichtbaren Folgen des Selbstmordattentats zu beseitigen. Die unsichtbaren werden bleiben.
Am Samstagabend ist nicht viel los vor der Weinstube. Im Schaukasten eines Fotoateliers ist der Anschlag mit Bildern dokumentiert. Am 24. Juli 2016 um 22.10 Uhr ist hier, vor einem der drei Eingänge zur pittoresken Reitbahn, ein Sprengsatz detoniert. Etwa 2500 Menschen vergnügten sich jenseits des Torbogens beim Konzert der deutschen Pop-Größen Joris, Philipp Dittberner und Gregor Meyle. "Ansbach Open" heißt das dreitägige Festival. Am Freitag ist es wieder so weit. Zum 18. Mal.
Die 17. Auflage endete vorzeitig. Mit einem dumpfen Knall. In Ansbach. Vor der Reitbahn. Es ist einfach nicht zu fassen, auch heute noch. Als Sohn der Stadt bin ich hier früher mit den Eltern und Geschwistern entlangspaziert, später mit der eigenen Familie, meist, um den Wochenmarkt zu besuchen. Links ein kleines Café, rechts die Weinstube und eine Pilsbar, etwas weiter hinten ein Hotel samt Restaurant. Nur an wenigen Tagen im Jahr ist hier richtig was los. Unter anderem bei den stets stark frequentierten Ansbach Open nebenan.
Der Selbstmordattentäter, ein 27-jähriger Syrer, wollte unter den Besuchern ein Blutbad anrichten. Möglichst viele mit in den Tod reißen, auch Kinder und Jugendliche. Eine Schülerin hatte 2009 bereits den Amoklauf am Gymnasium Carolinum mit vielen Verletzten erleben müssen, kommt aber diesmal, wie alle anderen in der Reitbahn, mit dem Schrecken davon. Weil dem Selbstmordattentäter bei der Konstruktion seiner Bombe wohl ein Fehler unterlief, geht der mit Metallteilen gefüllte Rucksack wahrscheinlich versehentlich vor dem Weinlokal hoch. Ein kräftiger Ordner hatte den ungebetenen Gast abgewiesen, weil er ohne Eintrittskarte auf das Veranstaltungsgelände wollte.
Nur Verkettung glücklicher Umstände verhinderte Massaker
Dass nur die Verkettung vieler glücklicher Umstände ein Massaker verhindert hat, beschäftigt Ansbach nach wie vor. Selbst beim Jubiläumskonzert der Städtischen Musikschule standen kürzlich zwei kräftige Wachmänner mit Knopf im Ohr vor der Tür, auch das Altstadtfest Mitte Juni lief unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen ab. "Die Behörden, Rettungsdienste und Veranstalter spielten schon einmal mögliche Szenarien durch", stand in der Fränkischen Landeszeitung. Rucksäcke sollten die Besucher zu Hause lassen und generell vorsichtig sein, obwohl spürbar mehr Ordnungskräfte unterwegs waren als im Vorjahr. Betonsperren blockierten die zentralen Zufahrten.
Hier können Sie die Ereignisse der Schreckensnacht
im Live-Ticker noch einmal nachlesen.
Passiert ist zum Glück: nichts. Ungute Erinnerungen kamen trotzdem hoch, als auf einer zentrumsnahen Brücke am Freitagabend plötzlich eine größere Tasche herumstand. Die Polizei sperrte weiträumig ab, konnte wenig später aber Entwarnung geben.
Mulmige Gefühle nehmen etliche Ansbacher aber nach wie vor mit auf größere Veranstaltungen wie das Altstadtfest. Oder die Kirchweih. Oder das Ansbach Open. Die meisten blenden ihre Bedenken einfach aus. Zustoßen könne einem heute doch praktisch überall etwas. Im Auto, auf dem Weihnachtsmarkt. So sei das Leben mittlerweile eben, leider. Aber was soll’s, es ist ja noch mal gutgegangen in Ansbach. Auf den ersten Blick hat sich die Stadt deshalb nicht verändert am 24. Juli 2016. Auf den zweiten schon.
Wer es erst am nächsten Morgen erfährt, hat die freie Auswahl. Ansbach, immer wieder Ansbach. Bei CNN, abends zur besten Sendezeit in einem ARD-Brennpunkt, Donald Trump missbraucht den Namen der Stadt für seine Propaganda. Der erste islamistisch motivierte Anschlag auf deutschem Boden wird zum medialen Weltereignis.
Ein sehr guter Freund erzählt von seinem Urlaub in den USA. Bekannte, die früher selbst in Ansbach gelebt hatten, wollten kürzlich von ihm wissen, wie das denn jetzt so sei, in der Stadt. Ob er und die Menschen das alles schon verarbeitet hätten. Ob das überhaupt möglich sei.
Zur allgemeinen Verwunderung konnte der Ansbacher von Normalität und überwiegend vernünftigen Reaktionen berichten. Und von seinen Gefühlen. "Natürlich hat man das noch im Hinterkopf", sagt er und sagen viele, die man jetzt vor dem Weinlokal oder anderswo anspricht auf den 24. Juli 2016.
Bedrohung weit weg gewähnt
Der Schock wirkt nach. Weil natürlich niemand ernsthaft damit gerechnet hat, dass so etwas im beschaulichen, ja verschlafenen Ansbach passieren könnte. Selbst nach der Messerattacke im 80 Kilometer entfernten Würzburg sechs Tage zuvor wähnte man fundamentalistische Bedrohungen noch ganz weit weg.
Das galt auch für die Anwohner in der Richard-Wagner-Straße, wo der Attentäter in einer von der Stadt angemieteten, dezentralen Unterkunft wohnte. Heute steht das Gebäude leer. Das Hotelschild hat der Eigentümer inzwischen vom Dach holen lassen. In einem der Zimmer hatte Mohammed D. offenbar unbemerkt von Mitbewohnern oder Betreuern seinen teuflischen Plan umsetzen können. Wegen psychischer Probleme war er früher in Behandlung gewesen. Und sollte zeitnah abgeschoben werden.
Am nächsten Tag tragen Polizisten kistenweise mögliches Beweismaterial aus dem renovierungsbedürftigen Haus. "Unheimlich viel los", sagt ein freundlicher Nachbar, sei damals gewesen, Journalisten, Schaulustige, Sicherheitskräfte. Was jetzt aus dem Haus wird, weiß er nicht, dass hier erneut Asylbewerber untergebracht werden könnten, glaubt er nicht. Vorwürfe an wen auch immer spart er sich. "Man hat die ja auch komplett sich selbst überlassen", sagt der Nachbar.
Ansbacher gehen pragmatisch mit Ereignissen um
In Panik verfielen bloß ganz wenige in der Stadt, die meisten Ansbacher gehen ausgesprochen pragmatisch mit dem Ereignis um. Wie so oft entscheidet auch in Ansbach die räumliche und zeitliche Nähe zum Ort des Geschehens darüber, ob sich in den Stunden und Tagen nach der Explosion mit zwölf zum Teil schwer Verletzten und dem toten Attentäter gesteigerte, womöglich sogar übertriebene Betroffenheit entwickeln kann.
Wer schon vorher etwas gegen andere Nationalitäten hatte, fühlte sich in seiner Meinung bestärkt, ebenso die überwältigende Mehrheit der Toleranten. Noch heute sind besonders Augen- und Ohrenzeugen des Geschehens freilich extrem sensibilisiert für abstrakte Gefahren. Erst recht die Zaungäste, die am Sonntagabend vor der Weinstube noch mit dem Attentäter an einem Tisch saßen. Oder ihn um 22.10 Uhr am Boden liegen sehen. Wie Ute Schliecker, die Kultur- und Tourismusreferentin der Stadt.
Als Mitorganisatorin der Ansbach Open erlebte sie die dramatischen Momente live mit. Erst in der Reitbahn, anschließend vor dem Weinlokal. "Es ist auf jeden Fall so, dass man nicht mehr so unbeschwert ist wie noch vor fünf Jahren", sagt Ute Schliecker; zusammen mit der Oberbürgermeisterin Carda Seidel und Polizeioberrat Heinz Prießmann wird sie heute im Stadthaus eine Pressekonferenz geben. Thema: Die Ansbach Open 2017. Und das neue Sicherheitskonzept, "das sich von dem beim Altstadtfest nochmals erheblich unterscheidet", wie Ute Schliecker ankündigt. Selbst bei den Rokoko-Festspielen habe man neulich erstmals die Taschen der Besucher kontrollieren lassen.
Der Vorverkauf für die Musikveranstaltung in der Reitbahn laufe gut, teilweise sogar sehr gut, sagt Ute Schliecker, ähnlich gut wie im Vorjahr. Über 5000 Besucher werden zwischen dem 21. und 23. Juli in der Reitbahn erwartet, das Interesse am Festival sei nach wie vor enorm. Weil so etwas wie vor einem Jahr jetzt wohl einfach überall passieren kann. Selbst in Ansbach.
Allerdings offenbart sich auch die Dimension des Themas. Einige rufen entweder nicht zurück oder wollen am liebsten gar nicht darüber reden. Über ihre Sichtweise, über die weiter bemerkenswerte Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Oder über die nach wie vor rund 600 Asylbewerber in der Stadt. Ein Mitarbeiter des Jugendamts erzählt von zwei jungen Syrern, die ihn und seine Kollegen bei Veranstaltungen auch heute noch ehrenamtlich unterstützen. Bei der beliebten Ferienpass-Aktion der Stadt im vergangenen Sommer musste er sich deshalb auch mit besorgten Eltern unterhalten.
Zwei Tage nach dem Selbstmordanschlag saß Norbert Imschloß mit seinem Akkordeon vor der Weinstube. Vor seiner Weinstube, er ist der Pächter. Auf dem Tisch nebenan standen noch ein paar halbvolle Bier- und Weingläser herum. Von Sonntagnacht. Genau da hat sich auch der Attentäter kurz aufgehalten.
"Meinen Hass kriegt ihr nicht"
Lediglich eine gesprungene Schaukastenscheibe des Fotoateliers ein paar Meter weiter drüben ließ damals noch erahnen, dass sich hier am Sonntagabend dramatische Szenen abgespielt haben mussten. Dass Ansbach nur ganz knapp an einer Katastrophe vorbeigeschrammt ist.
"Meinen Hass kriegt ihr nicht" hat jemand tags darauf in roter Farbe auf ein weißes Schild gepinselt und öffentlichkeitswirksam in Tatortnähe platziert. Über ein Dutzend Fernsehteams aus der ganzen Welt stellten sich vor der Weinstube auf, um zu berichten. Über den 27-jährigen Syrer, seinen islamistischen Hintergrund, Angst. Und die Besonnenheit der Ansbacher.
"Meine Mutter hat immer gesagt: Wenn du Angst hast oder Probleme, dann sing oder spiel dein Instrument", sagt Norbert Imschloß am vergangenen Samstagabend. Nur ein paar Sekunden, bevor Mohammed D. die Explosion auslöste, habe er noch vor ihm gestanden, versucht, seine Bestellung aufzunehmen, erzählt Norbert Imschloß. Die Deutsche Presse-Agentur sei neulich schon da gewesen, ein lokaler Radiosender. "Aber ich glaube, dass ich jetzt keine Interviews mehr geben werde", erklärt der 60-Jährige mit Tränen in den Augen, "es ist ja so, dass gerade alles wieder ein bisschen hochkommt."
Am Wochenende, bei den Ansbach Open 2017, wird die Weinstube offen sein, natürlich. Am 24. Juli, dem Jahrestag des Anschlags, ist allerdings geschlossen. "Es gibt Leute", sagt Norbert Imschloß noch, "die gehen wunderbar damit um, andere tun sich etwas schwerer."
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