Deniz Yücel prophezeit Türkei langfristige Schäden

24.11.2019, 12:47 Uhr
Deniz Yücel wurde 1973 als Kind türkischer Einwanderer in Flörsheim am Main geboren und studierte an der Freien Universität Berlin Politikwissenschaften.

© dpa Deniz Yücel wurde 1973 als Kind türkischer Einwanderer in Flörsheim am Main geboren und studierte an der Freien Universität Berlin Politikwissenschaften.

NN: Herr Yücel, Sie haben Ihr Buch nicht zufällig mit "Agentterrorist" betitelt. So hat der türkische Präsident Erdogan Sie genannt. Sie müssen ihn heftig verärgert haben, wenn er sogar ein neues Wort für Sie erfunden hat.

Yücel: Das ist ein Klassiker autoritärer Herrschaft, Kritiker als Agenten und Terroristen zu bezeichnen. Die Wortschöpfung Agentterrorist gibt es in der Tat auch im Türkischen nicht. Man muss ja davon ausgehen, dass sehr, sehr viele Verfahren direkt über Erdogans Tisch laufen und keine Entscheidungen getroffen werden, denen er nicht zustimmt. Aber diese Form von öffentlicher Vorverurteilung war aber selbst für türkische Verhältnisse die Ausnahme, wenn man einmal von Can Dündar (dem inzwischen in Deutschland lebenden, ehemaligen Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet; Anm. d. Red.) absieht.

Erdogan hat ja auch gedroht, Sie würden nie freikommen, solange er im Amt sei.

Yücel: Das ist ein Satz, mit dem er meine Frau, meine Freunde, meine Kollegen, meine Anwälte alle verängstigt hat. Aber ich habe das damals schon so gesehen, dass das ein Verhandlungsangebot nach Gangsterart war. Denn Erdogan hat gesehen, wie sehr sich die deutsche Öffentlichkeit und die Bundesregierung meines Falles angenommen haben, und dachte sich: Wenn der für die Deutschen so wertvoll ist, dann gebe ich den nicht umsonst her. So ticken Gangster, so ticken Teppichhändler. Und dieses Regime ist eine Mischung aus Gangstern und Teppichhändlern.

Lassen Sie uns kurz darüber reden, warum Sie überhaupt ins Visier gerieten.

Yücel: Weil ich meine Arbeit als Journalist gemacht habe. Ich schon früh, im Frühjahr 2015, aufgefallen, als ich von der Tageszeitung taz zur Welt gewechselt habe und als Korrespondent nach Istanbul gegangen bin. Zum Beispiel bei Pressekonferenzen: Ich stelle eine Frage und werde festgenommen.

Vom Berichterstatter wurde ich zum Gegenstand von Berichterstattung. Dann gab es ein Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit gehackten Emails des Schwiegersohns von Präsident Erdogan, Berat Albayrak, damals Energie-, dann Finanzminister, hauptsächlich aber Schwiegersohn. Und das erschien als eine prima Gelegenheit, nachdem man zuvor schon die türkischen Medien weitgehend mundtot gemacht hatte, nun auch die ausländischen Korrespondenten einzuschüchtern.


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Der zweite Grund war sicher das bevorstehende Verfassungsreferendum, mit dem Erdogan seine Macht, die er faktisch schon hatte, auch verfassungsrechtlich absichern wollte. Da kam Erdogan auf den alten Trick, wenn man etwas innenpolitisch nicht recht durchsetzen kann, einen außenpolitischen Konflikt anzuzetteln.

Vermutlich haben nicht nur Sie erwartet, Sie würden schneller freikommen. Letztlich erklärte das türkische Verfassungsgericht, lange nach Ihrer Freilassung, Ihre Inhaftierung für illegal. Heißt das, dass wenigstens in Teilen des türkischen Justizwesens noch Leute sitzen, die an rechtsstaatlichen Grundsätzen festhalten? Oder wäre das eine falsche Wahrnehmung?

Yücel: Für diesen Befund hätte das Verfassungsgericht damals, als ich im Gefängnis saß und diese Beschwerde eingelegt hatte, zu diesem Urteil kommen müssen. Das haben sie nicht gemacht. Als die Kollegen Can Dündar und Erdem Gül (Leiter des Hauptstadtbüros von Cumhuriyet; Anm. d. Red.) vor dem Ausnahmezustand verhaftet wurden und drei Monate in Untersuchungshaft saßen, hat das Verfassungsgericht ebenfalls die Unrechtmäßigkeit der Haft festgestellt.

Erdogan hat zwar getobt und erklärt, er akzeptiere diese Entscheidung nicht. Aber es blieb ihm nichts anderes, als die beiden freizulassen. Das hat sich nach Verhängung des Ausnahmezustandes geändert. Unter den vielen zehntausend Menschen, die damals verhaftet wurden, waren auch zwei Verfassungsrichter. Was bei mir, glaube ich, der Fall war, ist, dass die türkische Regierung dem Verfassungsgericht letztlich signalisiert hat, dass sie bei mir, weil ich ein außenpolitisches Problem geworden war, kein Interesse mehr an politischer Verfolgung haben.

Das Urteil enthält trotzdem erstaunliche Aussagen…

Yücel: Mit dem Urteil haben die Richter in der Tat gezeigt, dass sie, wenn sie wollen und dürfen, durchaus Urteile im Sinne der Pressefreiheit fällen können. Für sich genommen ist das sogar ein sehr gutes Urteil. Sie hätten sie darauf beschränken können, nur aufgrund von Verfahrensfragen die Unrechtmäßigkeit feststellen können. Das haben sie nicht gemacht. Sie haben aber darüber hinaus alle Anklagepunkte verworfen und haben sogar die Frage thematisiert, wann ist es eine Straftat, einen Terrorverdächtigen zu interviewen, und inwieweit ist das eine Aufklärung der Öffentlichkeit.

Also, mit dem Urteil haben die Verfassungsrichter gezeigt: Wenn sie dürfen, können sie auch. Die haben die Anklageschrift in einer Weise auseinandergenommen, dass ich, wenn ich Staatsanwalt gewesen wäre, vor Scham im Boden versunken wäre und nie wieder einen Gerichtssaal betreten hätte. Aber diesen Leuten wie dem Staatsanwalt, der für mich zuständig war, fehlt nicht nur jede fachliche Qualifikation, sondern auch jedes Schamgefühl.

Sie hatten bereits angesprochen, wie viele Zehntausende an Staatsbediensteten aus ihren Ämtern entfernt wurden. Welche Folgen, glauben Sie, hat das für die Türkei?

Yücel: Das ist eine Frage, die nicht nur für die Gegenwart von Bedeutung ist. Die Richter und Staatsanwälte, die ich kennengelernt habe, waren entweder brunzdumm oder sie waren fanatischen Anhänger von Erdogan. Die Türkei wird Erdogan überleben. Aber damit ist es nicht getan. Die Justiz, aber auch die Universitäten, die Polizei, der Verwaltungsapparat war in den 100 Jahren der türkischen Geschichte noch nie so auf den Hund gekommen wie jetzt. Selbst nach dem Militärputsch von 1980 wurden "nur" 120 Universitätsprofessoren entlassen. In den vergangenen Jahren wurden mehrere Tausend entlassen. Bis die Ruinen dieses Regimes aufgeräumt sind, das wird lange dauern.

Ein Großteil der Medien in der Türkei ist längst auf Linie gebracht. Mehr als 70 Journalisten wurden seit dem Putschversuch von 2016 verurteilt, mehr als 120 sitzen weiter in Haft. Es sieht ziemlich trübe aus.

Die Zahl der Journalisten, die heute in Haft sitzen, ist kleiner als zu der Zeit, als ich eingesperrt war. Aber die Türkei ist immer noch der größte Journalistenknast der Welt.

Sie haben mal gesagt, autoritäre Systeme müsse man nicht nur anprangern, sondern lächerlich machen. In der Türkei gibt es weiter bissige Karikaturen, die Erdogan dem Gelächter preisgeben. Das hat der Präsident offenbar bis heute nicht ganz ausradieren können.

Yücel: Es ist interessant, wer besonders im Fokus der Regierung steht, wo sie die größte Gefahr wittert. Trotz des Internets und der neuen Medien ist es immer noch vor allem das Fernsehen, vor dem sie sich am meisten fürchten. Ein Beispiel: die Evrensel ist eine linke Tageszeitung. Ungefähr mit demselben Personal wurde auch ein Fernsehsender betrieben, Hayat TV.

Nach dem Putschversuch wurde der Fernsehsender geschlossen, die Zeitung nicht. Es wurden natürlich auch viele Zeitungen geschlossen, aber vor dem Fernsehen haben sie die meiste Angst. Dann folgt das Internet, die sozialen Medien, dann Zeitungen. Satirische Blätter stehen vergleichsweise weniger im Fokus. Nicht, dass es nicht auch da Verfolgung geben würde, aber viel wichtiger ist das Fernsehen. Irgendeine Nische findet sich immer.


Deniz Yücel liest am Sonntag im Z-Bau aus seinem neuen Buch


Als Korrespondent in der Türkei werden wir Sie wohl nicht wieder sehen.

Yücel: Das wird auf absehbare Zeit nicht möglich sein. Da gab es in der Haft eine groteske Situation: diese Anklageschrift, in der von 18 Jahren Haft die Rede ist, und dann sagt der türkische Staat zu mir: "Hau ab! Wir wollen dich loswerden." Ich habe das damals abgelehnt aus dem Gefühl heraus: Ich habe hier meine Arbeit, meine Wohnung, meine Katze, meine Freunde. Aus dieser Arbeit wurde ich mit Gewalt rausgerissen. Das möchte ich zurückhaben.

Inzwischen weiß ich, aus der Knastperspektive konnte ich das nur so sehen. Jetzt muss ich das von einer anderen Seite sehen: Abgesehen davon, dass meine Frau das nie im Leben zulassen würde. Auch die Welt würde mich wohl eher auf die Bahamas schicken als wieder nach Istanbul. Es geht nicht nur um mich allein. Es gibt türkische Kollegen, in deren Anklageschrift steht: Er hatte Kontakt zu Deniz Yücel. Punkt. Als gäbe es diesen Straftatbestand. Aber wenn der bloße Kontakt zu mir Menschen gefährdet, muss ich das ernstnehmen. Unter diesen Umständen kann ich nicht in die Türkei.

Dafür gibt es ja jetzt ihr Buch.

Yücel: Ich habe das Buch geschrieben aus zwei Gründen. Der wichtigste: Ich habe schon bei meinem ersten Redaktionspraktikum bei der Mainzer Allgemeinen Zeitung gelernt: Gute Geschichten gehören ins Blatt. Und ich glaube, dass meine Geschichte selbst für türkische Verhältnisse eine so außergewöhnlich gute ist, dass ich die erzählen wollte. Natürlich geht es nicht nur um mich, mich, mich. Ich habe die Geschichte eingebettet in den ganzen Kontext. In einer Rezension stand: "Es ist mehr als ein Knasttagebuch".

Zweitens möchte ich mit dem Buch auch einen Punkt unter diese Geschichte setzen. Nicht vergeben und vergessen. Aber ich will nicht auf alle Zeit mit diesem Etikett "der Journalist, der im Knast gesessen hat" herumlaufen. Auch das wäre ein später Sieg für dieses Regime. Aber das Gute muss ja gewinnen, nicht das Böse.

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