Die Schule ist alles, was sie haben
22.5.2020, 10:49 UhrFrau Flory, Unterricht zu betreiben in Ihren Zeltschulen war vorher schon schwierig. Jetzt gibt es auch dort die ersten Coronafälle. Wie gehen Sie damit um?
Da muss man zunächst unterscheiden zwischen den Schulen, die wir in Syrien haben, und denen im Libanon. Der Libanon hat schon Mitte April landesweit ein Unterrichtsverbot erteilt. Auch wir mussten schließen. Auch dort wird jetzt Homeschooling betrieben, wenn auch anders als bei uns. Die Lehrkräfte, die ja ebenfalls im Lager leben, legen die Aufgaben vors Zelt, und am nächsten Abend sammeln sie die erledigten Arbeiten wieder ein und legen die neuen Aufgaben aus. In Syrien ist es so, dass Corona in unseren Camps noch gar nicht existiert. Da ist das bisher kein großes Thema. Es gibt da auch nicht diese Angst. Die meisten, die in diesen Lagern leben, sind vor den Kämpfen in Idlib geflohen. Die haben viel Schlimmeres erlebt als dieses Virus.
Können Sie überhaupt einschätzen, wie viele Coronafälle es in den Lagern gibt?
Nicht wirklich. Weder die syrische noch die libanesische Regierung stellen uns Tests zur Verfügung. Es gibt in den Camps Menschen, die erkrankt sind, die ein paar Tage Fieber haben und husten. Aber das gab es zu jedem anderen Zeitpunkt auch. Ob das wirklich Corona ist oder nicht, können wir nicht feststellen. Aber nachdem es allen Leuten, die erkrankt waren, nach wenigen Tagen wieder besser ging, auch den Älteren, ist die Angst davor nicht so groß. Wir stellen auch fest, dass im Libanon die geschlossenen Schulen den Kindern sehr viel mehr Angst machen als das Virus. Die Kinder waren jahrelang ohne Schule, jetzt ist es der Mittelpunkt ihres Lebens. Etwas anderes gibt es dort für sie nicht. Die Angst, dass die Schulen geschlossen bleiben könnten, ist viel größer als alles andere.
Wie kommen Sie als Privatperson eigentlich dazu, so etwas wie Zeltschulen zu starten?
Also, meine Kinder und ich haben im November 2015 gesehen, wie die Flüchtlingszüge in München ankamen und wie die ganzen Organisationen aus dem Boden schossen, die diesen Menschen helfen wollten, wenn sie hier sind. Ich dachte aber, es ist viel zu spät, wenn wir erst aktiv werden, wenn diese Menschen diese lebensgefährliche, mehrere tausend Kilometer lange Reise hierher hinter sich haben. Man müsste viel früher helfen. Ich war damals Elternbeirätin in der Schule meiner Tochter, die Zweitklässlerin war. Mein Sohn war noch im Kindergarten. Ich habe das Anliegen in den Elternbeirat getragen und bin da auf sehr offene Ohren gestoßen. Im August 2016 waren meine Kinder und ich vor Ort und haben die erste Zeltschule gebaut. Und von da an wurde das dann quasi zum Selbstläufer, immer mehr Schulen kamen dazu.
Jetzt muss man sich trotzdem fragen, wieso es die Aufgabe einer privaten Initiative sein kann, Zeltschulen zu betreiben, wo doch große internationale Organisationen wie das Flüchtlingshilfswerk UNHCR dort sind, die über Gelder vieler Staaten verfügen.
Diese internationale Unterstützung hat im Libanon – und das war bis Ende 2019 unser einziger Einsatzort – völlig versagt. Bei Ausbruch des Krieges 2011, als sich abzeichnete, dass Hunderttausende von Menschen in den Libanon fliehen würden, hat das UNHCR die libanesische Regierung gefragt: "Unterrichten wir die Kinder oder wollt ihr sie unterrichten?" Es ist in meinen Augen irrsinnig, eine solche Frage einer Regierung zu stellen, die seit Jahrzehnten dafür bekannt ist, unglaublich korrupt zu sein. Natürlich hat die Regierung gesagt: "Gebt uns das Geld, wir kümmern uns." Daraufhin flossen da riesige Summen, ohne dass ein einziges syrisches Kind jemals eine libanesische Schule besucht hätte.
Sie arbeiten da unter schwierigen Umständen. In den Lagern leben Menschen, die vor den Islamisten geflohen sind. Aber es leben dort auch die Islamisten selbst.
Es sind sehr unterschiedliche Leute dort. Wir haben Universitätsprofessoren, aber auch Menschen, die aus der Wüste hinter Aleppo kommen, in Beduinenzelten gelebt haben und selbst nicht lesen und schreiben können. Das ist schon schwierig. Dann haben wir säkulare Leute, etwa aus den großen Städten wie Damaskus oder Homs, und Menschen, die sehr traditionalistisch sind und denen ihr Glaube sehr wichtig ist. Ein weiteres Problem ist aber, dass viele Angst haben, dass die syrische Regierung Spitzel in die Camps schickt, weil wir dort auch viele politische Flüchtlinge haben, die bei einer Rückkehr nach Syrien sofort verhaftet würden. Gerade in den großen Camps, wo man nicht mehr jeden kennt, muss man sehr vorsichtig sein, mit wem man was vertraulich besprechen kann.
Sie erleben ja auch, welche Art von Zukunft sich die Menschen vorstellen. Wollen die nach Europa?
Nein, ich bin um alles Mögliche gebeten worden. Aber noch nie hat mich jemand in den Camps gefragt, ob ich ihnen helfen könnte, nach Europa zu kommen. Noch nie. Die Leute wollen unbedingt einen Regimewechsel, und danach wollen sie so schnell wie möglich nach Hause.
Sie haben ja noch mit einem anderen Problem zu kämpfen: Erwachsene Flüchtlinge dürfen im Libanon nicht arbeiten, Kinder schon. Da ist doch der Druck hoch, dass die Kinder Geld ranschaffen müssen, dann aber nicht in die Schule kommen können.
Das ist ein großes Problem, denn das ist die einzige Möglichkeit, die Familien am Leben zu halten, denn der libanesische Staat bietet den Flüchtlingen keinerlei finanzielle Unterstützung. In der Bekaa-Ebene, wo die meisten Lager sind, weil das das Grenzgebiet ist, müssen eigentlich alle Kinder, die neun Jahre oder älter sind, den ganzen Tag aufs Feld. Anders kann die Familie nicht überleben. Wenn wir also hinfahren würden, nur um Schulen zu bauen, wären diese Schulen leer. Deswegen ist der wichtigste Teil unserer Arbeit der, dass wir die ganzen Familien, nicht nur die Kinder, mit Lebensmitteln, mit Kleidung, im Winter mit Holz zum Heizen versorgen, wenn jemand krank ist, auch mit Medikamenten.
Aber das ist doch eine Aufgabe, die eine private Organisation total überfordern muss. Da müssen doch andere Akteure aufs Feld.
Das wäre schön. Aber ich habe bis jetzt noch niemanden gefunden, der langfristig bereit wäre, die Verantwortung zu übernehmen für die 20 000 Menschen, um die wir uns kümmern. Es sind private Stiftungen, die uns unterstützen, aber nicht die deutsche oder die bayerische Regierung.
Es wäre doch aber im Sinne unseres Entwicklungsministers Gerd Müller, der sagt, wir müssten die Menschen in der Region unterstützen, nicht erst hier.
Wenn das ohne die Einschaltung der libanesischen Regierung gehen würde, dann wäre das wie ein Sechser im Lotto. Aber selbst bei dem einen Projekt, in dem wir mit dem Minister zusammenarbeiten, hat das BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) von Anfang an gesagt, sie übernehmen nur die Kosten für den Bau der Schule. Aber das sind keine großen Kosten, das ist ja nur ein Zelt. Laufende Kosten übernehmen sie aber grundsätzlich nicht. Da hat dann ein Allgäuer Bürgermeister, der im Rahmen der BMZ-Initiative "Kommunales Knowhow für Nahost" im Libanon war, zugesagt, dass er diese Kosten übernimmt und das mit Feuerwehrfesten und anderem aufbringt.
Das heißt, Deutschland bezahlt für die Flüchtlinge, wenn sie sich auf den Weg nach Europa gemacht haben, aber nicht, wenn sie in ihrer Region bleiben?
Genau. Und dieser Link im Kopf, dass diese Menschen sich gar nicht erst auf den Weg hierher gemacht hätten, wenn man frühzeitig genug die Nachbarländer wie Jordanien oder den Libanon sinnvoll unterstützt hätte, dieser Link ist offenbar nicht da.
Wer das Projekt unterstützen möchte:
Zeltschule e.V.
IBAN: DE44 7015 0000 1004 3195 29
BIC: SSKMDEMMXXX
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