Die Ursprünge des Rassismus: "Wir haben das überhaupt nicht aufgearbeitet"
15.6.2020, 16:06 UhrHerr Heckmann, wie weit reicht – historisch gesehen – der Versuch zurück, Menschen in Rassen einzuteilen?
Friedrich Heckmann: Der reicht zurück bis in den beginnenden Kolonialismus im 16./17. Jahrhundert.
Haben aber nicht schon Aristoteles und die alten Griechen auf den Rest der Menschheit als die "Barbaren" herabgesehen?
Heckmann: Dass sich Menschengruppen bewertet haben, das hat es tatsächlich schon immer in der Geschichte gegeben. Rassismus ist allerdings eine spezifische Art der Begründung dieses Unterschiedes. Er behauptet die Minderwertigkeit bestimmter anderer Gruppen "von Natur aus". Der Begriff der Barbaren bezieht sich bei Aristoteles auf die griechische Kultur. Das bedeutete, dass wer bei der Ausbreitung der griechischen Kultur im Mittelmeerraum die griechische Kultur annahm, dann auch als gleich und auf Augenhöhe betrachtet wurde.
Eine Möglichkeit, die der Rassismus dagegen ausschließt . . .
Heckmann: Ja, denn seine besondere Härte besteht darin, dass eine von Natur aus gegebene Ungleichheit und Ungleichwertigkeit behauptet wird, die man auch nicht verändern kann. Weshalb es auch wichtig ist, dass man zwischen Rassismus und ethnischen Vorurteilen unterscheidet. Denn das ethnische Vorurteil knüpft an teilweise behauptete, teilweise aber auch wirklich gegebene kulturelle Unterschiede an.
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Das heißt also, in der Antike gab es zwar ethnische Vorurteile, aber keinen Rassismus?
Heckmann: Die Forschung zeigt, dass es bei Babyloniern, Ägyptern und Persern keine rassistische Abwertung anderer Gruppen gab. Und über die römische Antike gibt es eine interessante Arbeit des Harvard-Kunsthistorikers und Altertumsforschers Frank M. Snowden. Der hat alle möglichen Kunstdokumente, Schriften von Historikern und Denkmäler untersucht auf die Frage, ob es in Bezug auf Schwarze Abwertungen und Spuren rassistischer Ideologien gegeben habe. Und er kommt zu dem Ergebnis, dass dies nicht nachweisbar sei.
Wie kam es dann irgendwann zum rassistischen Denkansatz?
Heckmann: Unter dem Einfluss der beginnenden Aufklärung und revolutionärer Bestrebungen zur Überwindung der Adelsherrschaft beginnt die relevante Anwendung rassistischer Ideologie. Sie wird zum Kampfinstrument des Adels gegen das aufstrebende Bürgertum, das die Gleichheit der Menschen propagiert und die Überwindung der überkommenen Ordnung anstrebt. Da gibt es den bekannten Grafen Boulainvilliers, der ein Vorläufer des Grafen Arthur de Gobineau, eines der Begründer der rassistischen Theorie, wird, und der die Sozialordnung als natürliche Rassenordnung beschreibt. Damit wird der Kampf gegen diese Ordnung als Kampf gegen die Natur dargestellt.
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Rassismus rechtfertigt Unterdrückung
Das heißt, beim Rassismus geht es von Beginn an auch immer um die Rechtfertigung von Herrschaft.
Heckmann: Ja. Im Kolonialismus geht es um die Rechtfertigung der Unterdrückung, Ausbeutung und Versklavung nichteuropäischer Bevölkerungen. Es gibt da zunächst auch Widerstand, der sich in den Debatten der Intellektuellen und Theologen widerspiegelt. In Spanien gab es 1550 in Valladolid die berühmte öffentliche Debatte zwischen Las Casas und Sepúlveda. Las Casas verteidigt dabei die christliche These von der Gleichheit der Menschen gegen Sepúlvedas Annahme der natürlichen Ungleichheit, die unter anderem die Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen mit deren schweren Sünden rechtfertigt. Und Sepúlveda gewinnt am Ende die Debatte.
Hat unsere Gesellschaft das Unrecht des Kolonialismus aufgearbeitet?
Heckmann: Wir haben das überhaupt noch nicht aufgearbeitet. Wir glauben ja immer noch, dass der deutsche Kolonialismus anders gewesen sei als der britische oder französische.
Ein ganz spezieller deutscher Mythos . . .
Heckmann: Ja, genau. Wie sehr die Aufarbeitung des Kolonialismus versäumt wurde, sieht man beispielsweise daran, dass erst jetzt in den Museen die Diskussion losgeht, welche Stücke aus dieser Zeit es überhaupt wert sind, ausgestellt zu werden.
Rassismus ist "sehr flexibel"
In Verbindung mit der Zeit des Kolonialismus geht es meist um Rassismus gegenüber Menschen mit dunkler Hautfarbe. Rassismus erschöpft sich ja aber nicht darin.
Heckmann: Nein, ganz im Gegenteil. Er ist sehr flexibel. Im 19. Jahrhundert erlebten wir ja etwa den Wandel vom religiösen Antisemitismus zum rassistischen Antisemitismus. Äußerlich waren da bei den assimilierten jüdischen Bürgern keine Unterschiede festzustellen, an denen man so etwas wie eine biologisch gegebene Ungleichheit hätte festmachen können. Trotzdem war es möglich, diesen Menschen zu unterstellen, dass sie von Natur aus böse und minderwertig und dass Assimilation und Integration nur eine Art Maskerade seien.
Wann stellte sich denn allmählich – wenigstens in der Wissenschaft – die Erkenntnis ein, dass rassistische Theorien völliger Unfug sind?
Heckmann: Eigentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg in der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Ideologie. Da arbeitete das auch die Naturwissenschaft allmählich systematisch auf. Die heutige Genforschung zeigt ja, dass sich verschiedene Menschengruppen nur in ganz wenigen Genen unterscheiden und es eben den Homo sapiens gibt. Der später in die Vereinigten Staaten ausgewanderte deutsche Sozialanthropologe Frank Boas hat allerdings schon in den 20er Jahren die sogenannte Rassentheorie widerlegt.
Entschuldigt die relativ spät erfolgte Abkehr der Wissenschaft von Rassentheorien, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes den Begriff Rasse auch wieder verwendeten?
Heckmann: Sie haben implizit rassistisch argumentiert, indem sie gesagt haben, dass niemand wegen seiner Rasse diskriminiert werden dürfe. Korrekt müsste es heißen, dass man nicht rassistisch diskriminiert werden darf. Aber das ist eben so im Denken verankert, dass selbst gutmeinende Leute den Begriff Rasse verwenden. Selbst in der EU-Antidiskriminierungsrichtlinie aus dem Jahr 2000 steht das Gleiche wieder drin. Man hat dann später noch eine kleine Fußnote dazugesetzt, aber der Text blieb der alte.
Unsere aktuelle Rassismusdebatte – und noch viel stärker die in den Vereinigten Staaten von Amerika – nimmt auch immer wieder Sicherheitsbehörden in den Fokus. Wie ist es zu erklären, dass Polizei und Justiz sich immer wieder einschlägige Vorwürfe einhandeln?
Heckmann: Einmal damit, dass die Sicherheitsbehörden ganz einfach Teil der allgemeinen Bevölkerung sind. Wenn es vielleicht auch spezielle Rekrutierung gibt und sich insbesondere Menschen mit eher konservativen Weltanschauungen und Ordnungsvorstellungen für diese Berufe interessieren. Und dann sind diese Menschen in der Arbeit natürlich mit schwierigen Situationen konfrontiert. Um etwa irreguläre Migration einzuschränken, macht es ja auch Sinn, dass man bestimmte Personenkontrollen vornimmt.
Gibt es Gesellschaften auf dieser Welt, die von rassistischen Problemen im Verlauf ihrer Geschichte weitgehend verschont blieben?
Heckmann: Gruppenspannungen, Abwertungen und Grausamkeiten sind sicher ein universales Phänomen, aber es gibt doch – etwa in den skandinavischen Gesellschaften und auch bei uns – immerhin positive Trends hin zu einer Überwindung von Rassismus. Dafür ist doch die gegenwärtige Diskussion ein gutes Beispiel. Allgemein kann man sagen: Gesellschaften, in denen soziale Ungleichheit weniger ausgeprägt ist, haben die größere Chance, auf solche Ideologien zu verzichten.
Sie glauben daran, dass sich momentan in vielen Köpfen etwas zum Positiven bewegt?
Heckmann: Auf jeden Fall. Und ich finde es außerdem überaus spannend, dass jetzt Juristen und auch die Politik gesagt haben, wir fangen mal an, das auch im Grundgesetz zu diskutieren.
Spielt vor allem auch die junge Generation eine positive Rolle, weil sie stärker global denkt?
Heckmann: Ich weiß nicht, ob das nur damit zusammenhängt. Sicher sind in der jungen Generation die rassistischen, unhinterfragten Kategorien weniger verbreitet. Aber ich möchte es jetzt nicht zu einer Generationenfrage machen. Ich fand es auch bemerkenswert, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer gesagt hat, wir sollen das jetzt diskutieren in Bezug auf das Grundgesetz. Wichtig ist, dass die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften jetzt zu den Juristen übergehen. Dass die den Begriff Rasse fallenlassen und den Begriff Rassismus anders verstehen.