Historischer Tag
Ein Zeitalter endet: Deutschland schaltet seine letzten Atommeiler ab
15.4.2023, 17:40 UhrNach rund sechs Jahrzehnten geht in Deutschland das Zeitalter der Atomkraftwerke zu Ende. An diesem Samstagabend sollten die letzten Meiler Isar 2 in Bayern, Emsland in Niedersachsen und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg vom Netz gehen. Kernkraftgegner feierten den historischen Schritt schon tagsüber mit Festen in Berlin und anderswo. Politisch jedoch bleibt der Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland umstritten. Die mitregierende FDP forderte, die letzten drei Meiler nicht abzubauen, sondern als Reserve zu behalten.
Eigentlich hätten die drei AKW schon Ende 2022 abgeschaltet werden sollen. Die frühere Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP hatte den Ausstieg bereits 2011 als Reaktion auf die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima beschlossen. Wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der dadurch ausgelösten Energiekrise entschied die Ampel-Koalition jedoch 2022, die drei Atomkraftwerke über den Winter weiterlaufen zu lassen und erst Mitte April auszuschalten.
Als erstes kommerzielles Kernkraftwerk war der Meiler in Kahl in Bayern im November 1960 in Betrieb gegangen - seit Juni 1961 speiste er Strom ins Netz ein. Auch wenn die Entscheidung zum Ausstieg in Deutschland seit langem politisch besiegelt ist, schwelt die Debatte über das Für und Wider der Atomkraft weiter. Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sagte der Deutschen Presse-Agentur, der Atomausstieg mache Deutschland sicherer. "Die Risiken der Atomkraft sind im Falle eines Unfalles letztlich unbeherrschbar." Grünen-Chefin Ricarda Lang twitterte, der Atomausstieg bedeute den "endgültigen Einstieg ins Zeitalter der erneuerbaren Energien." Die SPD-Bundestagsfraktion schrieb auf Twitter: "Atomkraft? Und Tschüss".
Hingegen forderte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai, diese Technologie nicht völlig aufzugeben. "Die Kernenergie muss auch nach dem Ausstieg eine Zukunft in Deutschland haben", sagte er der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. "Dazu gehört, dass wir die Forschung auf dem Gebiet der Kernfusion ausweiten und die Chancen neuer und sicherer Technologien der Kernspaltung nutzen."
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagte am Freitagabend im Interview der ARD-"Tagesthemen", er glaube an eine Neuauflage der Kernenergie. "Wir spüren diese große Energiekrise, wir brauchen jedes Fitzelchen Energie." Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) forderte mehr Forschung an neuen Technologien. "Der Ukraine-Krieg und die Energiekrise zeigen uns, dass wir uns breit aufstellen müssen. Wir müssen besonders angesichts des Atomausstiegs technologieoffen Forschung fördern. Nicht nur aussteigen, sondern auch mal einsteigen", sagte er der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
Die Umweltschutzorganisation Greenpeace feierte den Ausstieg aus der Atomenergie in Berlin. Am Brandenburger Tor zeigte sie ein rotes Männchen, das mit einem "Atomkraft? Nein Danke"-Schild und einem Schwert auf einem nachgebauten Dinosaurier stand. Auf dem Bauch des Dinos stand "Deutsche Atomkraft" und "Besiegt am 15. April 2023!".
In Berlin protestierten am Samstag aber auch einige Menschen gegen die Abschaltung der Kernkraftwerke. Der Verein Nuklearia hatte in einem Aufruf angekündigt, ein positives Zeichen für Atomkraft setzen zu wollen: "Wir sehen die Kernkraft als besten Weg, unseren Wohlstand zu erhalten und gleichzeitig die Natur und das Klima zu schützen."
In München veranstalteten der Bund Naturschutz und Greenpeace ein Atomausstiegsfest. Zur Kundgebung kamen nach Schätzungen der Polizei rund 1000 Teilnehmer. In Baden-Württemberg feierten Hunderte Kernkraftgegner vor dem Meiler Neckarwestheim ein "Abschaltfest".
Wenige Stunden vor der Abschaltung des Kernkraftwerks Emsland forderten Atomkraftgegner in Lingen einen konsequenten Ausstieg aus der Atomindustrie in Deutschland. Am Samstag zogen Hunderte Atomkraftgegner von der Brennelementefabrik ANF, die zum französischen Framatome-Konzern gehört, zum nahe gelegenen Atomkraftwerk. Die Demonstranten freuten sich einerseits über das Ende der Nutzung der Kernenergie - andererseits forderten sie aber auch ein Aus für die Brennelementefabrik in Lingen.
Emotionen am Atomkraftwerk Isar 2
Für die Mitarbeiter des Meilers Isar 2 ist das Abschalten nach Angaben des Vorsitzenden des Konzerns PreussenElektra, Guido Knott, ein emotionaler Moment: "Heute endet nach 50 Jahren die Stromproduktion aus Kernenergie bei PreussenElektra. Das geht uns allen sehr nahe, und das macht auch mich persönlich sehr betroffen." Der Konzern hatte mitgeteilt, dass sämtliche Mitarbeiter feste Arbeitsverträge bis 2029 erhielten. Danach soll die Mitarbeiterzahl reduziert werden. Am Standort Essenbach arbeiten rund 450 Menschen.
Schrittweise Abschaltung bis Mitternacht
Die Abschaltung des letzten Atomkraftwerks wurde kurz vor Mitternacht erwartet - welcher der drei Meiler der letzte sein würde, war unklar. Das Atomkraftwerk Isar 2 sollte dem Betreiber PreussenElektra zufolge voraussichtlich gegen 23.45 Uhr vom Netz gehen und somit keinen Strom mehr einspeisen. Etwa eine Viertelstunde später werde der Reaktor abgeschaltet, sagte Werksleiter Carsten Müller. "Wir erfüllen das Atomgesetz mit dem Trennen des Generators vom Netz vor Mitternacht."
Nach dem Abschalten wird der Reaktor "kaltfahren". Müller zufolge wird dabei die Temperatur in der Anlage innerhalb von etwa zwölf Stunden auf Umgebungstemperatur gesenkt. Etwa neun Stunden nach der Abschaltung werde über dem Kühlturm kein Dampf mehr zu sehen sein.
Europäische Länder gehen ganz unterschiedlich mit der Atomkraft um. In Belgien sollen AKWS bis mindestens Ende 2035 weiterlaufen können. Die Schweizer Kernkraftwerke dürfen so lange betrieben werden, wie sie sicher sind. Der Bau neuer Kernkraftwerke ist verboten. Die linke Regierung Spaniens will alle Kernkraftwerke des Landes zwischen 2027 und 2035 schließen. Italien ist schon im Zuge der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (1986) aus der Kernenergie ausgestiegen.