Experte: "Die Schuldenbremse nicht in Frage stellen"

4.2.2021, 11:41 Uhr
Experte:

© Foto: imago images/Andreas Gora

2,2 Billionen Euro: Bund, Länder und Kommunen sind Dank der Corona-Rettungspakete so hoch verschuldet wie noch nie. Kann sich der Staat auf Dauer leisten, immer neue Schulden aufzuhäufen oder muss er vielmehr wieder mehr in die Schuldentilgung gehen, wenn die Wirtschaft wieder rund läuft? Fragen an Prof. Johannes Rincke, Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Herr Professor Rincke, Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) hat erklärt, dass die grundgesetzlich fixierte Schuldenbremse (siehe Stichwort) auch in den nächsten Jahren kaum einzuhalten sei – deshalb solle auf die jährliche Überprüfung am besten gleich ganz verzichtet werden. Wäre das nicht der erste Schritt zur Abschaffung dieses Instruments?

Die Schuldenbremse hat zwei Seiten: Einmal regelt sie konkret, wie stark sich der Staat in normalen Zeiten verschulden darf. Auf der anderen Seite hat sie auch eine politisch-symbolische Bedeutung: Sie macht deutlich, dass für Staatsschulden nicht einfach "mehr ist besser" gilt, sondern dass wir hier vernünftige Grenzen brauchen. Es ist für Regierungen sonst einfach zu attraktiv, Ausgaben über Staatsschulden zu finanzieren und damit Generationen zu belasten, die noch nicht geboren sind und sich daher nicht wehren können. Ich glaube, dass wir in Deutschland mit der Einführung der Schuldenbremse einen Fortschritt gemacht haben, den wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen sollten. Die Schuldenbremse sieht ja vor, dass der Staat in einer Krise sehr flexibel reagieren und sich viel stärker als in normalen Zeiten verschulden kann. Nur weil wir jetzt in so einer Krise stecken, sollte man die Schuldenbremse an sich nicht in Frage stellen.

Die Schuldenbremse hat dazu beigetragen, die Staatsverschuldung nicht nur zu begrenzen, sondern zu senken, so dass der deutsche Staat die Corona-bedingte Neuverschuldung zu attraktiven Konditionen bekommen hat. Wäre es deshalb nicht angezeigt, dass der Staat die Schuldenbremse so schnell wie möglich wieder einhält?

Wenn man eine Volkswirtschaft aus einer so schweren Krise wie der jetzigen herausmanövrieren will, darf man sich keine großen Fehler erlauben. Wenn man die Hilfsmaßnahmen zu schnell zurückfährt, dann kann es passieren, dass man damit einen beginnenden Aufschwung abwürgt. Dann passieren die ganzen Pleiten, die wir mit sehr viel Geld verhindert haben, doch noch. Wenn der Staat also zu früh zu sparen beginnt, dann kann das viel teurer werden, als wenn man die Hilfsmaßnahmen noch ein paar Monate weiterführt. Das heißt: Ja, wir sollten die Schuldenbremse so bald wie möglich wieder einhalten. Aber wir neigen in Deutschland manchmal dazu, ein bisschen regelversessen zu sein, das sollten wir uns bei der Schuldenbremse besser verkneifen. Es geht jetzt mittelfristig vor allem um pragmatische Politik. Langfristig sollte dann wieder das Ziel sein, gesunde Staatsfinanzen zu sichern.


Pause von der Schuldenbremse? Der richtige Weg, kommentiert NN-Chefredakteur Alexander Jungkunz.


Reiner Hoffmann, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), hat in dieser Zeitung vor kurzem den Vorstoß des Kanzleramtschefs begrüßt und den Vorsitzenden des Sachverständigenrats dafür kritisiert, dass dieser die Rückkehr zu solider Finanzpolitik gefordert hat. "Solche Sachverständigen brauchen wir nicht", meint er. Wie finden Sie das?

Ich bin vor allem für Pragmatismus in der Wirtschaftspolitik und gegen ideologische Grabenkämpfe. Der deutsche Staat gibt derzeit riesige Beträge aus, um Millionen Arbeitsplätze zu sichern und zahllose Unternehmen am Leben zu erhalten. Das kommt uns allen zugute und ist soziale Marktwirtschaft in Reinform. Wenn Prof. Lars Feld als Vorsitzender des Sachverständigenrates darauf hinweist, dass das natürlich irgendwann ein Ende haben müsse, dann ist das nur vernünftig. In der Politik werden oft Dinge gesagt, die eher an die eigene Klientel gerichtet sind, vielleicht war das hier der Fall. Ich vermute jedenfalls, dass man auch bei den Gewerkschaften heilfroh darüber ist, dass der deutsche Staat in der Krise finanziell aus dem Vollen schöpfen kann.

Dass der Staat sich wirtschaftspolitisch antizyklisch verhalten soll, also in einer Wirtschaftskrise nicht spart, sondern investiert, geht auf den Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes zurück. Aber verstehen nicht alle diejenigen Keynes falsch, die den Staat auch dann als steuernden Wirtschaftsakteur sehen, wenn Krisenzeiten zu Ende sind?

Zum Glück müssen wir nicht bis zu Keynes zurückgehen, um die Rolle des Staates als Wirtschaftsakteur zu verstehen. Vor allem haben wir in den letzten Jahrzehnten sehr viel konkrete Erfahrung sammeln können, wie Staaten Wirtschaftskrisen erfolgreich meistern können. Die Finanzkrise 2008/09 und das folgende Jahrzehnt bis zum Ausbruch der Corona-Krise zeigen, wie es gehen kann: Der Staat muss in einer schweren Wirtschaftskrise schnell handeln und in der Lage sein, große zusätzliche Ausgaben zu finanzieren. Das bedeutet, dass die Staatsschulden sprunghaft ansteigen. Wenn die Krise überwunden ist, müssen dann die Staatsfinanzen in Ordnung gebracht werden – denn es ist ja nur eine Frage der Zeit, wann die nächste Krise kommt. Der deutsche Staat mit seiner soliden Finanzpolitik hat das nach der Finanzkrise geschafft. Der Staat ist also auch in normalen Zeiten ein wichtiger Wirtschaftsakteur. Er steht aber eher hinter der Bühne und wartet auf seinen nächsten großen Einsatz.


Die Schuldenbremse auszusetzen ist nicht grundsätzlich falsch, kann aber nicht ohne Blick auf die Staatsverschuldung geschehen, findet NZ-Chefredakteur Stephan Sohr.


Es gibt Ökonomen, die sagen, dass die Verschuldung eines Staates kein relevanter wirtschaftspolitischer Faktor sei, weil ein Staat ja per se nicht pleitegehen kann – zumal Schulden ja derzeit kein Geld kosten, sondern aufgrund der Null- und Minuszinsen Geld bringen. Warum liegen diese Fachleute falsch?

Es ist eine gefährliche Illusion zu glauben, dass die Verschuldung des Staates keine Rolle spiele. Dieser Idee kann man nur verfallen, wenn man glaubt, dass solide Staatsfinanzen (und damit niedrige Zinsen) ein Naturgesetz seien. Das sind sie aber nicht. Wir haben in der Staatsschulden- und Eurokrise doch alle gesehen, was passiert, wenn Staaten die Kontrolle über ihre Finanzen entgleitet. Die Zinsen gehen durch die Decke, und die Staaten sind in Windeseile zahlungsunfähig. Mit Griechenland und anderen Euro-Staaten wäre das damals passiert, wenn man nicht riesige Rettungsschirme aufgespannt hätte. Wir hatten das Glück, dass wir nach der Finanzkrise zehn Jahre Zeit hatten, uns wirtschaftlich und finanzpolitisch zu erholen. Man mag sich gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn das Coronavirus neun oder zehn Jahre früher aufgetaucht wäre. Wir hätten dann dieser Krise nicht so widerstehen können.

Ihre Fakultätskollegin Prof. Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat der Wirtschaftsweisen, meint, dass sich das Konto, mit dem der Staat seine Schulden wieder abbezahlen kann, "beinahe wie von selbst füllen" werde, wenn die Wirtschaft wieder normal läuft. Sind Sie ähnlich optimistisch?

Staaten können zum Glück aus ihren Schulden herauswachsen. Wenn nach einer Krise die Wirtschaft dynamisch wächst, dann steht ein immer höheres Einkommen zur Verfügung, aus dem die bestehenden Staatsschulden bedient werden können. Selbst wenn man die Schulden nicht tilgt, werden sie also relativ zur Größe der Wirtschaft immer kleiner. Vor zehn Jahren, also unmittelbar nach der Finanzkrise, lag unsere Staatsschuldenquote bei fast 80 Prozent. Das war schon ein bedenklich hoher Wert. Vor dem Ausbruch der Corona-Krise war sie dann auf unter 60 Prozent gesunken. Man sieht also, dass das Herauswachsen aus den Schulden funktionieren kann. Nach Corona werden wir wahrscheinlich wieder bei einer Staatsschuldenquote von etwa 80 Prozent stehen. Die entscheidende Frage ist, wie viel Zeit wir dann fürs Herauswachsen bekommen.

Wird der Wirtschaftsaufschwung nach Ende der Pandemie reichen, um die Staatsverschuldung wieder unter Kontrolle zu bringen, oder wird es zu Steuererhöhungen kommen müssen?

Niemand kann die Zukunft voraussagen. Die Finanzmärkte nehmen aber offenbar einen sehr dynamischen Aufschwung nach der Krise an, das sollte uns optimistisch stimmen. Wenn es so kommt, brauchen wir keine Steuererhöhungen.

Prof. Johannes Rincke ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik an der FAU. Seine Forschung verbindet Fragen aus dem Bereich Finanzwissenschaft mit solchen der Verhaltensökonomie. Ein Schwerpunkt liegt auf der Konzeption und Durchführung von Feldexperimenten zu Compliance-Fragen wie etwa der Steuerehrlichkeit.

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