Flüchtlinge: Warum zeigt die Politik ihre Erfolge nicht vor?
20.8.2018, 14:57 UhrFrau Bendel, Bundeskanzlerin Angela Merkel war kürzlich in Spanien und hat sich erstmals sehr deutlich über das Dublin-Abkommen geäußert, das die Zuständigkeit der EU-Staaten für Flüchtlinge regeln soll – es sei nicht zukunftstauglich. Es ist aber nicht recht klargeworden, was dann kommen könnte. Wie sehen Sie das?
Petra Bendel: Spanien ist zum Hauptankunftsort in Europa geworden, weil die Fluchtrouten sich verschoben haben. Die Spanier fühlen sich alleingelassen. Da darf man nicht denselben Fehler machen wie mit Italien und Griechenland. Deswegen der Kanzlerin-Besuch. Dublin hat sich eigentlich noch nie als funktionsfähig erwiesen. Erst recht nicht 2015/2016 mit dem hohen Flüchtlingsaufkommen. Es war klar, dass das ganze System kollabieren musste, spätestens seitdem sich die vier Visegrád-Staaten in der EU (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn; Anm. d. Red.) komplett weigern, Flüchtlinge aufzunehmen. Was man sich vorstellen könnte, wäre ein Job-Sharing-Modell, bei dem die Staaten an den Außengrenzen von den anderen Mitgliedstaaten unterstützt werden.
Das wäre genau das, was bei Dublin eigentlich sowieso gelten sollte, aber nie implementiert wurde. Die an den Außengrenzen ankommenden Flüchtlinge sollten nach den ursprünglichen Plänen auf die anderen Staaten verteilt werden.
Bendel: Das ist auch Teil des Dublin–IV-Abkommens, das derzeit verhandelt wird. Dieser Mechanismus soll greifen, wenn die Staaten an den Außengrenzen zu 150 Prozent ausgelastet sind – was ja schon schwierig ist, denn damit zementiert man einen Zustand der permanenten Überfüllung und Überforderung der Staaten an den Außengrenzen. Das darf nicht passieren. Spanien wird sich auch nicht darauf einlassen – sie haben ja das Beispiel von Italien und Griechenland vor Augen. Da muss man dann auch klären: Wie sollen denn solche Auffangzentren aussehen im Innern Europas? Und wie können entlang der Flüchtlingsrouten Zentren installiert werden, die aber nicht große Auffanglager sein sollen? Auch da müsste man die Menschenrechtsstandards sichern. Libyen, zum Beispiel, geht gar nicht: Wir wissen, wie massiv dort die Menschenrechte verletzt werden. Eigentlich müsste die EU entlang dieser Migrationsrouten Städten helfen, damit sich dort Wirtschaftskraft entfaltet. Man sollte dort keine Lager bauen, in denen Menschen zur Untätigkeit verdammt sind, sondern das Potenzial der Migranten und Flüchtlinge, das sie ja haben, nutzen. So stelle ich mir Kooperation mit Transitstaaten eher vor.
Deutschland hat mit Spanien gerade ein Rückkehrabkommen vereinbart. Jetzt zeigt sich, dass bisher kein einziger Flüchtling davon betroffen war. Letztlich sieht es doch so aus, als seien dies politische Spiegelfechtereien. Es gibt große Debatten, aber wir arbeiten an den falschen Stellen.
Bendel: Dass aus Spanien Flüchtlinge weiterwandern bis Deutschland, ist in der Tat bisher nicht vorgekommen. Aber wir haben auch in der Vergangenheit gesehen, dass sich solche Routen verschieben können. Ich würde nicht ausschließen, dass das hier auch passieren kann. Im Moment aber ist das nicht der Fall.
Wenn Sie die Flüchtlingsdebatte verfolgen – als jemand, der das beruflich tut –, denken Sie sich da auch manchmal: Können die politisch Verantwortlichen nicht mal einen Gang runterschalten und pragmatischer mit diesen Fragen umgehen?
Bendel: Ja, selbstverständlich. Die öffentliche Meinung ist stark polarisiert, sie wird dadurch weiter angeheizt anstatt sie zu versachlichen, wie das Aufgabe von Wissenschaft ist.
Nun hat Bayern, zumindest am Anfang der Flüchtlingskrise gar nicht so schlecht reagiert. Fehler, die in anderen Bundesländern gemacht wurden, gab es hier in dem Ausmaß nicht. Es wurden nur kurz und nicht häufig Turnhallen als Flüchtlingsunterkünfte genutzt, womit man die Vereine gegen sich aufbringt. Warum zeigt man die Erfolge nicht mehr her, sondern thematisiert ständig nur die Probleme?
Bendel: Das ist ein Problem der politischen Kommunikation. Man könnte in der Tat die Erfolge mehr hervorheben. Gerade in Bayern haben wir etliche Integrationserfolge, was die Situation der Berufsschulen angeht oder überhaupt die Integration in Bildung. Ich denke, dieses Narrativ "Wir schaffen das" müsste weitererzählt werden. Einmal in Richtung Öffentlichkeit, um zu zeigen, was man denn schon erreicht hat. Ich bin viel im Ausland unterwegs, und dort ziehen viele den Hut vor Deutschland, weil wir so viel geschafft haben. Das muss man aber um eine zweite Komponente ergänzen: Man muss auch offen benennen, wo wir noch weitermachen müssen. Ich begrüße in diesem Zusammenhang auch die #MeTwo-Debatte, in der aufgezeigt wird, wo es überall noch Alltagsrassismus gibt, aber auch institutionelle Gewalt. Diese Dinge müssen benannt werden – aber das muss sachlich geschehen.
Einer der Streitpunkte ist, dass Flüchtlinge, die aus welchen Gründen auch immer nicht abgeschoben werden können, hier nicht arbeiten dürfen – obwohl manche gute Qualifikationen aufweisen. Können Sie dies nachvollziehen?
Bendel: So ganz allgemein stimmt das nicht. Der Bund hat die Arbeitsmöglichkeiten für einzelne Gruppen in den letzten Jahren sehr geöffnet. Asylbewerber, deren Verfahren noch laufen, können nach drei, maximal aber nach sechs Monaten auf den Arbeitsmarkt zugelassen werden. Sie brauchen dazu aber die Zustimmung der Ausländerbehörde, sie haben keinen Rechtsanspruch darauf. Dasselbe gilt für die Geduldeten, die nicht abgeschoben werden können. Hier sehen wir jedoch, dass die Ausländerbehörden je nach Bundesland sehr unterschiedlich entscheiden.
. . . und Bayern ist da besonders restriktiv.
Bendel: In der Tat. Das gilt insbesondere für die 3+2-Regelung (nach der Asylbewerber drei Jahre eine Ausbildung machen und dann zwei Jahre arbeiten können).
Ist das sinnvoll?
Bendel: Natürlich nicht. Weder aus integrationspolitischen Gründen noch mit Blick auf den Fachkräftemangel. Aus beiden Gründen ergibt das überhaupt keinen Sinn, die 3+2-Regelung restriktiv zu handhaben.
Von Ahmad Mansour erscheint demnächst ein neues Buch "Klartext zur Integration", in dem er Integration als Aufgabe für Jahrzehnte oder gar als Jahrhundertaufgabe sieht und die Politik auffordert, sie müsse hier deutlich mehr investieren. Hat er recht?
Bendel: Ich habe das Buch noch nicht gelesen. Aber natürlich ist Integration eine Aufgabe mindestens für die nächsten Jahrzehnte. In letzter Zeit hat sich die Debatte stark auf die Flüchtlinge konzentriert – das bleibt eine große Aufgabe. Integration bezieht sich aber auch auf andere Migranten. Das ist ein bisschen leichter, weil diese sich aktiv für etwas entscheiden, sich möglicherweise vor ihrem Kommen darauf vorbereiten und Deutsch lernen. Was wir aber noch tun sollten: Wir brauchen mehr Koordination zwischen den Ressorts, die für Integration zuständig sind. Das sind die Ministerien für Inneres, für Arbeit, da ist der Städtebau, da ist das Forschungsministerium, wenn es um die Integration in die Hochschulen geht. Auch beim Schulwesen müssen Bund, Länder und Kommunen noch viel besser zusammenarbeiten. Da ist noch viel Luft nach oben. Es braucht einen gesamtheitlichen Ansatz. Integration müsste bei allen Gesetzesvorhaben mitgedacht werden.
Zuständig für Integration wäre nicht zuletzt Bundesinnenminister Horst Seehofer, der sich zu diesen Fragen bisher aber kaum geäußert hat.
Bendel: Er ist nicht alleine zuständig, er teilt sich die Zuständigkeit mit anderen Ministerien. Er könnte aber die Aufgabe angehen, den nationalen Integrationsplan wiederzubeleben – also genau diesen Dialog zwischen den verschiedenen Ministerien, mit den unterschiedlichen politischen Ebenen. Er könnte auch den Austausch suchen mit den Wohlfahrtsverbänden und der Zivilgesellschaft, auch mit den vielen Ehrenamtlichen, und diesen Dialog institutionalisieren. Das wäre eine gute Maßnahme, die von ihm ausgehen könnte.
Sie sind Mitglied im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Wie wird der von der Politik wertgeschätzt?
Bendel: Sehr stark. Wir beraten nicht nur die Bundesregierung, sondern auch alle Bundestagsfraktionen und alle politischen Ebenen. Wir äußern uns gefragt oder ungefragt – wir werden aber in der Tat häufig konsultiert.
Nennen Sie doch ein paar Beispiele.
Bendel: Wenn wir bei der europäischen Ebene anfangen: Der Verteilungsplan für Flüchtlinge war ein Vorschlag von uns; er ist von der EU-Kommission übernommen worden – allerdings hat er dann nicht funktioniert, weil sich einige Mitgliedstaaten verweigert haben. Wir haben uns zu allen bisher vorliegenden Entwürfen für ein Einwanderungsgesetz geäußert. Da werden unsere Empfehlungen stark verarbeitet. Auch bei den Integrationsgesetzen der Bundesländer oder bis hinunter zu den Konzepten der Kommunen. Wir haben beispielsweise die Stadt Hamburg begleitet bei der Erstellung eines Integrationskonzepts mit 140 Indikatoren.
Stichwort Einwanderungsgesetz, das nun endlich kommen soll: Schon jetzt gibt es eine ganze Reihe von Regelungen, die sehr kompliziert sind und oft gar nicht bekannt. Da braucht es doch dringend mehr Transparenz, oder?
Bendel: Auf jeden Fall. Ein Einwanderungsgesetz kann genau das leisten. Wir brauchen für viele Gruppen gar nicht mal unbedingt liberalere Zuwanderungsregeln. Die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit) hat uns wiederholt gelobt für unsere liberalen Regelungen, insbesondere im akademischen Bereich. Im Bereich von Fachkräften kann man aber noch nachlegen, auch bei der Ausbildungszuwanderung. Auch die Anerkennung von Bildungsabschlüssen könnte man vereinfachen. Was aber ein Einwanderungsgesetz insbesondere leisten kann, ist, die vorhandenen Regeln zu verschlanken, zu systematisieren und transparenter zu machen. Damit könnte es eine erhebliche Signalwirkung erzielen. Zum einen könnte man damit nach innen an die womöglich besorgte Bevölkerung kommunizieren – was bisher zu wenig geschehen ist: Wir brauchen Einwanderung, um unseren Sozialstaat zu erhalten und um Fachkräfte zu gewinnen. Und nach außen könnte man den Zuwanderungswilligen zeigen: Ja, wir wollen euch haben.
. . . das hieße dann auch: Man bräuchte es nicht unbedingt über das Asylrecht zu probieren.
Bendel: Ganz genau.
Andere Baustelle: Seit vielen Jahren wird gesagt, wir müssten uns viel stärker den Fluchtursachen widmen. Doch das geschieht nicht wirklich. Entwicklungsminister Gerd Müller etwa beklagt, dass unsere Wirtschaftspolitik in Afrika kontraproduktiv ist und einige Probleme noch verschärft. Was muss da passieren?
Bendel: Das ist ein wirklich kompliziertes Thema. Es ist voll von Vorannahmen, die sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht unbedingt decken. Die Forschung zeigt nämlich, dass Migrationsbewegungen und die individuelle Entscheidung dazu sehr komplex sind. Um ein Beispiel zu nennen: Die Entwicklungspolitik geht vielfach davon aus, dass die Bekämpfung von Armut, vor allem von extremer Armut, dazu führt, dass die Menschen weniger wandern. Das stellt die Migrationsforschung infrage. Teilweise ist sogar das Gegenteil der Fall. Es gibt den sogenannten Migrationsbuckel, der sich in der Einkommens-Wanderungs-Relation auf einer Kurve ablesen lässt. Mit steigendem Einkommen und steigender Bildung und Ausbildung werden die Menschen zunächst mobiler, nicht immobiler. Erst ab einer gewissen Einkommenshöhe nimmt die Wanderungsbereitschaft wieder ab.
Das ist aber nur ein Teil der Motivlage.
Bendel: Richtig. Es geht nicht nur um wirtschaftliche Gründe. Auch der demografische Wandel spielt eine Rolle mit der Folge gewachsener Jugendarbeitslosigkeit. Der Anpassungsdruck verschiedener Wirtschaftssektoren aufgrund der Globalisierung spielt eine Rolle. Dann natürlich auch Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Korruption. Bis hin zu den Fluchtursachen wie Gewalt, Repression, Menschenrechtsverletzungen. Schließlich der Klimawandel, dessen Auswirkungen wir noch gar nicht beziffern können. Wir vermuten, dass die meisten Menschen, die vom Klimawandel betroffen sind, in ihrer Region bleiben werden. Aber auf lange Sicht muss man das genau beobachten.
Entwicklungsminister Müller hat sich jüngst dafür eingesetzt, dass die europäischen Märkte stärker geöffnet werden für Produkte aus Afrika. Es gab dafür weder aus der eigenen Regierung noch aus anderen EU-Staaten viel Zuspruch.
Bendel: Es wäre auf jeden Fall ein sinnvoller Weg, die europäischen Märkte stärker zu öffnen. Wichtig wäre genauso, die afrikanischen Märkte nicht mit Waren zu überschwemmen, die wir nicht mehr brauchen. Ich will aber betonen, dass Entwicklungskooperation nicht primär zum Ziel haben kann, Migration zu verhindern. Entwicklungszusammenarbeit kann allenfalls langfristig dazu beitragen, Lebensbedingungen in den jeweiligen Ländern zu verbessern.
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