Besuch in Kiew
Geburt bei Luftalarm: Eduard kam am ersten Kriegstag zur Welt - so geht es ihm heute
27.02.2023, 10:50 Uhr
An den ersten Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine erinnert sich die damals hochschwangere Kiewer Juristin Ljusja Gbur nur allzu gut. "Am ersten Kriegstag waren wir in der Geburtsklinik. Unter dem Klang der Luftalarmsirenen habe ich Eduard am 24. Februar geboren", sagt sie in ihrer Dreizimmerwohnung aus Sowjetzeiten, während der kleine Blondschopf Eduard quicklebendig herumwackelt. Früh setzten bei ihr an dem Tag die Wehen ein, gegen halb neun wurden sie stärker. "Vielleicht wegen des Stresses", erinnert sich die 36-Jährige.
Als Eduard dann auf die Welt kam, hatte die Hochschuldozentin im Wochenbettzimmer aber nicht lange Ruhe. "Nehmt den Kleinen und rasch in den Bombenschutzkeller", war die strikte Anweisung des Klinikpersonals. Sie rannten vom siebten Stock nach unten, erzählt Ljusja gefasst. "Die Männer standen, dicht gedrängt waren viele Frauen mit Kindern da", beschreibt sie die Situation im kalten, feuchten Keller.
In der Wohnung in Kiew ist auch der achtjährige Eldar, der Fratzen macht und sich wie alle hier an den ständigen Luftalarm wegen der russischen Angriffe gewöhnt hat. "Wir haben uns nicht auf den Krieg vorbereitet und bis zum Letzten gehofft, dass es nicht dazu kommt", sagt Ljusja über den wohl längsten Tag ihres Lebens. "Um 4.20 Uhr setzten die Wehen ein." Wenig später rissen die ersten Explosionen die Einwohner der Dreimillionenstadt aus dem Schlaf. "Da die Situation unklar war, ging Eldar nicht in die Schule, und wir fuhren mit den fertig gepackten Sachen um 7.00 Uhr in die Geburtsklinik."
Schon am nächsten Tag verließ die Familie aus Angst vor Kämpfen zwischen ukrainischen und russischen Truppen die Stadt. Statt nach Westen, wie die meisten Fliehenden, fuhren sie nach Nordosten, ins Gebiet Sumy, zu den Eltern ihres Mannes Jewhenij. "Wir fahren und fahren, und uns kommen plötzlich Panzer entgegen, wir haben nicht einmal begriffen, dass dies russische Panzer waren", erzählt sie.
"Die Soldaten glaubten, noch in Russland zu sein"
Später erfährt die Familie, dass jene Kolonne gut 40 Minuten später von ukrainischen Kampfdrohnen vernichtet wurde. "Gott hat uns einfach befohlen, sehr schnell zu fahren", erinnert sich Ljusja. Im Sumy-Gebiet trafen sie auf weitere russische Panzer. Auch in dem Dorf, in dem sie sich dann aufhielten, waren russische Soldaten. "Sie haben aber nichts angerührt, selbst im Geschäft mit Rubeln bezahlt, weil sie glaubten, in Russland zu sein." Über Monate blieb die Familie in der Region - und kehrte erst Anfang Juni wieder nach Kiew zurück, wo sie seither lebt.
"Wir kommen klar", sagt Ljusja lächelnd. Um 7 Uhr weckt sie den älteren Sohn Eldar, macht ihm Frühstück und schickt ihn zur Schule. Gegen 13 Uhr holt sie ihn mit dem Kinderwagen ab. Dazwischen füttert und windelt sie den kleinen Eduard, geht mit ihm spazieren. "Ein normales Mutterleben." Ihre Wohnung ist im Erdgeschoss und hat faktisch einen eigenen Kellerzugang - gut, um bei Luftalarm Schutz zu suchen.
Ihr Mann Jewhenij, der im landwirtschaftlichen Bereich arbeitet und dieses Jahr auf eine gute Sonnenblumen-Saison hofft, sagt, dass das erste Kriegsjahr auch für die Ernte kein gutes gewesen sei. Es regnete viel, alles - "Diesel, Saatgut, Dünger" - sei teurer geworden.
Ins Ausland gehen wollten sie nicht
Er und Ljusja freuen sich auf ihr drittes Kind, im Spätsommer ist es so weit. Familienväter mit drei Kindern können bisher nicht zum Kriegsdienst eingezogen werden. Ins Ausland gehen wollte die Familie nicht.
"Meine Eltern leben in den Staaten", sagt Ljusja. Freunde hätten ihr angeboten, nach Deutschland zu gehen. "Ich will aber nicht, dass meine Kinder ohne den Vater aufwachsen." Zumindest im Moment kann Jewhenij als Wehrpflichtiger das Land wegen der Verhängung des Kriegsrechts nicht verlassen. Ljusja will ein stabiles Leben für ihre Familie, nicht wie ihres in der Kindheit, als die Eltern immer im Ausland arbeiteten.
Die Familie weiß zu schätzen, was andere Länder, darunter Deutschland, für die Ukraine tun - auch mit Waffenlieferungen. Aber großartig äußern mag sich Jewhenij nicht zur Frage der deutschen Panzer für die Ukraine. "Das ist eine politische Frage, für das einfache Volk ist klar, dass man nur mit Panzern keinen Krieg gewinnt." Für die Familie geht es vor allem darum, durch die schwere Zeit zu kommen. In der Ukraine hätten sie Arbeit und könnten sich selbst helfen, wie er sagt. Es gebe andere, denen es schlechter gehe.
Am bedenklichsten findet Jewhenij, wie schnell man sich an das Leben mit Luftalarmen und Stromausfällen gewöhnt habe. "Es gibt Leute, die aus dem Ausland zurückkehren, für die ist es ein Schock, doch für uns ist es bereits das gewohnte Leben."
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