Im Schatten der Väter

08.08.2018, 08:00 Uhr
Im Schatten der Väter

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Über das komplexe Thema sprachen die NN mit Jürgen Müller-Hohagen aus Dachau, Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut. 2005 erschien sein Buch "Verleugnet, verdrängt, verschwiegen — Seelische Nachwirkungen der NS-Zeit und Wege zu ihrer Überwindung".

Herr Dr. Müller-Hohagen, wie haben die Söhne und Töchter von Nazi-Tätern die Schuld ihrer Eltern und Großeltern verkraftet?

Jürgen Müller-Hohagen: Die Antworten fallen unterschiedlich aus, denn das Thema umfasst eine große Bandbreite. Es polarisiert und schafft Gegensätze. Und es ist auch 73 Jahre nach dem Krieg noch nicht zu Ende. Einige reagieren mit Hass und Abneigung auf ihre Vorfahren, andere mit einem wohlwollenden Verständnis für ihren "guten Vater". Manche wollen sich keinem Gespräch stellen oder fürchten, den Vater kritisieren zu müssen. Es handelt sich hier um Bindungen von einer besonderen Tiefendimension. Jahrelange Erfahrungen in meiner Praxis haben gezeigt, dass die meisten Betroffenen sich für Loyalität unter Ausblendung alles Negativen entscheiden. Denn wer riskiert schon, als "Nestbeschmutzer" zu gelten und von seiner Familie isoliert zu werden, weil er zu viele Fragen stellt?

Inzwischen weiß die Forschung, dass die Nachkommen der Täter unterschiedliche Wege gehen, die oft auch ins Gegenteil umschlagen. Trifft das auch auf Rosemarie Liebels zweitälteste Schwester zu? Veronika hat einen Türken geheiratet und trat zum Islam über.

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Müller-Hohagen: Mit aller Vorsicht würde ich sagen, das wäre vorstellbar. Denn das Schweigen der Väter und ihre monströsen Taten sind eine erdrückende Last, davon will man sich mit allen möglichen Mitteln befreien. Oft suchen die Nachkommen auch Berufe, die konträr liegen. Martin Bormann, Sohn von Hitlers Sekretär, wurde Lehrer und Priester. Klaus von Schirach, ein Sohn des Reichsjugendführers Baldur von Schirach, lebt als Rechtsanwalt in München. Und Hilde Schramm, eine Tochter Albert Speers, gründete die Stiftung "Zurückgegeben", die Juden in Kunst und Wissenschaft unterstützt.

Welche Rollen spielen die Frauen der Nazis? Welchen Einfluss hatte Else Liebel auf die Erziehung ihrer jüngsten Tochter?

Müller-Hohagen: Nachkriegshistoriker, meist Männer, widmeten sich ausführlich den mächtigen NS-Tätern und untersuchten deren rohe Gewalt und Grausamkeit. Ihre Frauen standen weniger im Fokus. Erst um das Jahr 2000 begann man sich mit der Rolle der Frau im Nationalsozialismus zu beschäftigen; das Interesse daran ist nach wie vor groß. Ich kann mir, ohne sie ja zu kennen, schon vorstellen, dass Rosemarie Liebel regelrecht unter dem Bann ihrer Mutter stand, die ja bekanntlich überzeugte Nazin bis zu ihrem Tode war. So etwas ist von großer psychologischer Bedeutung, das darf man nicht unterschätzen. Ich finde es sehr mutig, dass die 76-Jährige zu diesen Gesprächen bereit war und dadurch einen Blick in ihre Familiengeschichte erlaubte, auch mit ihren Desorientierungen. Das ist, wie gesagt, bemerkenswert, auch wenn die Tochter hier keine ausgefeilten politischen Erklärungen abgibt.

Haben wir uns vom Schatten Hitlers fortbewegt oder stecken wir noch tief drinnen?

Müller-Hohagen: Ich glaube, diese Epoche ist zwar historisch intensiv erforscht worden, doch auf psychologischem Gebiet liegt immer noch vieles im Dunkeln. Es geht um seelische Nachwirkungen der NS-Zeit, wie sie bis heute anzutreffen sind bei Menschen, die den Nationalsozialismus erlebt haben, bei ihren Kindern und Kindeskindern. Dabei ist unbedingt zu unterscheiden zwischen den verschiedenen Hintergründen, also zwischen Täterschaft und sogenanntem Mitläufertum auf der einen Seite, erlittener Verfolgung auf der anderen, ebenso Widerstand und Widerstehen. Auch den Folgen von Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung begegne ich weiterhin in meiner Arbeit. Und die Nachwirkungen der NS-Zeit liegen nicht isoliert auf innerseelischem Gebiet, sondern haben sich auch niedergeschlagen in unseren Familienbeziehungen, in der Arbeitswelt, in Wirtschaft und Politik, im Umgang mit Minderheiten, mit Angst, Versagen, Schuld, Tod. Uns aus diesen Störungen und Verwirrungen zu befreien, bedeutet einen langen Prozess, gesellschaftlich wie individuell. Ob das gelingt, wird mit darüber entscheiden, wie Zukunft möglich ist und welche Wege eines menschlichen Miteinanders gefunden werden.

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