Pragmatisch und ohne Ideologien
Kanzlerin Angela Merkel strebte nicht nach Größe - das hatte Stil
3.12.2021, 17:25 UhrDie Live-Übertragung der Großen Zapfenstreichs zum Abschied von Kanzlerin Angela Merkel im ZDF hatte einen Marktanteil von 30,4 Prozent. Das ist mehr als respektabel. Das ist im politischen Geschäft ein Quotenrenner. Tags darauf vermeldete ein Hersteller von Räuchermännchen aus dem Erzgebirge, dass sich die Merkel-Holzfigur mit ihrer charakteristischen Raute exzellent verkauft. Was von der Kanzlerin bleibt, ist sicherlich mehr als solche Folklore oder die Erinnerung an die von ihr ausgewählten Lieder für den Großen Zapfenstreich.
Keine Schlagworte, keine Ideologien
Vielleicht sind es Zeichen dafür, dass die mitunter sich sehr zurückhaltend gebende, scheidende Kanzlerin, doch die Herzen der Deutschen berührt hat. Mit ihrer Aufforderung sich gegen Hass, Gewalt, Falschinformationen und Verschwörungstheorien zu stellen, machte sie in wenigen Worten deutlich, was den Kern ihrer Politik ausgemacht hat. Sie agierte mit menschlichem Maß, fernab von donnernden Schlagworten und Ideologien. Das kann man als pragmatisch bezeichnen.
Man kann ihr dafür auch das Epitheton Mutti anheften und ihr Handeln kritisieren, weil der Union nach 16 Jahren der konservative Kern abhanden kam. Zu einer solchen Politik gehört der Mut, sich auf seine eigenen Verstandeskräfte zu verlassen und Empathie zu zeigen, wenn alte Rezept bei neuen Krisen nicht mehr funktionieren. Deutschland hätte in Europa auf Jahre hinweg unter einem gewaltigen Ansehensverlust gelitten, wenn es Griechenland oder Italien nach dem Bankendesaster hätte fallen lassen. Europäische Nationen, die gemeinsamen Werten verpflichtet sind, helfen sich.
Wo sind die Konservativen?
Das gleich gilt für ihr Flüchtlingspolitik: Man kann 2015 nicht Hunderttausende von Flüchtlingen buchstäblich verrecken lassen. Auch wenn der Zustrom eine Zumutung für die eigene Bevölkerung war. Das waren das zutiefst menschliche Gesten. Selbst wenn sie einem nicht gefallen. Im Übrigen haben in der Union in den vergangenen Jahren etliche Akteure versucht, sich als konservativ zu positionieren. Sie waren aber wenig überzeugend für ein breites Publikum. Nicht Merkel hat die Union entkernt, sondern die Parteispitzen selbst, weil sie keine modernen konservativen Antworten auf neue gesellschaftliche Fragen gefunden haben.
Größe oder Stil?
Auch bei den anderen großen Krisen, mit denen sie umgehen musste, gab es keine Blaupausen für linkes oder konservatives Handeln. Nach Fukushima hat keine relevante politische Kraft noch auf Atomenergie gesetzt und in der Coronakrise gab es keine Erfahrungswerte. Wenn Fehler gemacht wurden, dann lag das nicht allein an Merkel. Schlaumeier wissen am Ende immer alles besser, das ist wie die FDP beim Impfen. Merkel machte Fehler, weil sie manche Diskussionen zu lange laufen ließ, die Herausforderungen der Zukunft nicht konsequent anging und stets den Kompromiss suchte, so dass politische Konturen verloren gingen. Aber sie war keine Kanzlerin, die nach Größe strebte, das hatte Größe und Stil.
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