Kommentar: Corona testet unsere Hochleistungsgesellschaft

Alexander Jungkunz

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14.3.2020, 05:55 Uhr
Die Schulen in Bayern und in weiten Teilen Europas sind dicht. Das Coronavirus stellt große Teile Europas vor mächtige Herausforderungen.

© Hartmut Voigt Die Schulen in Bayern und in weiten Teilen Europas sind dicht. Das Coronavirus stellt große Teile Europas vor mächtige Herausforderungen.

"Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen." Der Satz ist knapp vierhundert Jahre alt. Er stammt vom französischen Universalgenie Blaise Pascal (1623-1662). Was der Mathematiker, Physiker und Philosoph schrieb, wird oft zitiert. Und es liest sich wie eine sehr lapidare Kürzest-Beschreibung der Coronakrise und ihrer dramatischen Folgen.

Das Virus stellt unsere aufs Höchstmaß mobile, vernetzte Gesellschaft vor eine gewaltige Herausforderung. Denn in noch vor kurzem unvorstellbarem Tempo wird ebendieses Tempo herausgenommen aus unserem Leben. Vieles kommt zum Stillstand: Eine Industrienation nach der anderen fährt ziemlich abrupt vom Hochleistungs- auf den "Sleep"-Modus herunter; die Staaten überbieten sich mit der Radikalität der Schritte.


Liveticker zum Coronavirus: Über 3000 Fälle in ganz Deutschland


Und es ist zu erwarten, dass jene Länder Schule machen, die am striktesten vorgehen. Das erleben wir ja aktuell: Waren Schul-Schließungen vor kurzem noch kein Thema für Deutschland, so sind sie nun in den allermeisten Bundesländern Realität. Wir holen nach, was andere Staaten schon länger angeordnet haben. Ob jeder einzelne Schritt wirklich sinnvoll ist, das wird sich oft erst im Rückblick sagen lassen. Die Schulschließungen schaffen erst einmal gewaltige Probleme für viele Eltern. Da entstehen Härtefälle, für die es in vielen Fällen keine gute Lösung geben wird.

Aber alles, was angeordnet wird, ordnet sich dem einen, zentralen und buchstäblich überlebensnotwendigen Ziel unter: die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, damit unser an die Grenzen geratendes Gesundheitssystem nicht kollabiert, sondern möglichst gut (re)agieren kann. So unterschiedlich die Experten auf manche Details des in seinen Auswirkungen noch zu wenig erforschten Virus blicken: Bei diesem Ziel sind sich alle einig.

Die Schwarze Null ist tot

Daher erleben wir einen Ausnahmezustand ohnegleichen. Kleines Beispiel aus unserer Redaktion: Wie füllen die Kollegen vom Sport oder vom Feuilleton denn ihre Seiten, wenn de facto kein Sport mehr stattfindet und sämtliche Premieren vertagt sind?

Eine vergleichsweise geringe Herausforderung angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise. Die sind jetzt schon gewaltig. Jeder Tag – und es werden viele sein –, an dem das öffentliche Leben weitgehend heruntergefahren wird, drückt die Wachstumszahlen weiter nach unten. Daher ist es sinnvoll und von kaum zu unterschätzender Bedeutung, dass Bund und Länder nun gewaltige Hilfen auf den Weg gebracht haben. Corona macht vieles möglich, was zuvor tabu war: Die "Schwarze Null" im Haushalt ist nun selbstverständlich nicht mehr zu halten, die öffentliche Hand wird enorme Summen ausgeben müssen, um einer Fülle von teils existenziell bedrohten Branchen zu helfen und Arbeitsplätze zu sichern.

Das Herunterdimmen des gesellschaftlichen Lebens stellt uns alle vor Fragen, denen wir uns stellen müssen: Kann unsere Spaß-, Ego-, Leistungs- und Freizeitgesellschaft nicht nur einen Gang herunterfahren, sondern eine Vollbremsung einlegen? Wie wichtig sind die oft sehr eigensinnigen Wünsche und Pläne tatsächlich, die unsere minutiös gefüllten Terminkalender uns bisher diktierten? Was zählt letztlich wirklich?

Da bleibt im Kern: die Sorge ums nackte Überleben. Daher passiert alles, um den Virus zu bremsen. Und es geschehen plötzlich Dinge, die zuvor absolut undenkbar waren. Der Klimawandel mit seinen zusehends unabwendbaren Folgen für Umwelt und Natur – und damit für unser (Über)Leben – hat die Politik zu keinerlei ähnlich drastischen Reaktionen veranlasst. Da gibt es hehre Absichtserklärungen, aber wenig Taten. Offenbar deshalb, weil diese seit Jahrzehnten wachsende Bedrohung viel abstrakter und weniger sichtbar ist als ein Virus, dessen Verbreitung sich mit Zahlen und Karten ganz konkret ablesen lässt und der (bisher zum Glück nur wenige) Menschen tötet.

Dabei könnte weniger Wachstum, wie die Politik es nun im Eiltempo herbeiführt, guttun: Dass der Turbo-Kapitalismus ohne Rücksicht auf Verluste der Erde schadet, wissen wir alle. Und erleben nun, in welches Dilemma unsere Art des Wirtschaftens uns bringt: Wir müssten sie menschen- und umweltverträglicher gestalten. Das aber würde drastische Einschnitte erfordern – zu denen sich Politik und Wirtschaft nicht durchringen, weil dann jenes Wachstum in Gefahr geriete, auf dem unser (national wie global ungerecht verteilter) Wohlstand beruht.

Lehrstück für den Zusammenhalt

Corona ist dann auch eine Chance, wenn es uns zum Überdenken dieses Modells zwingt. Über die hoffentliche Bewältigung der Krise hinaus. Nun wird unübersehbar, was im Argen liegt, aber bisher hingenommen wurde: Wie heikel es ist, sich auf globale Lieferketten zu verlassen. Wie verletzlich die Globalisierung ist, wenn sie ihr bisher unbekannte Grenzen hinnehmen muss.

Wir können nur hoffen, dass die Coronabekämpfung funktioniert. Das hängt auch von unserer Vernunft ab, von Rücksicht, Solidarität, Zusammenhalt und auch Verzichtsbereitschaft. Im besten Falle wird aus dem Umgang mit der Krise ein Lehrstück, das unsere Gesellschaft stärker macht.

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