Kommentar: Demokratie neu wagen!
24.10.2019, 11:10 UhrUnmittelbar nach Willy Brandts Regierungserklärung war da erst mal wenig Begeisterung. "Wir wollen mehr Demokratie wagen", das wurde erst später zum Sinnbild für Aufbruch.
So ein neuer Aufbruch täte Deutschland (wie Europa) auch 50 Jahre nach 1969 gut. Die Republik droht zu erstarren, sie ist dabei, zurückzufallen. Weil politische Führung fehlt; Angela Merkel hat sie nahezu nie gezeigt. Doch nur wer sich Ziele setzt, wer sich Ehrgeiziges, auch Schmerzhaftes, aber Notwendiges (etwa beim Klima) vornimmt, wer andere mit- und in die Pflicht nehmen will, der kann einen Schub auslösen.
Ist Brandt da noch aktuell? Mehr denn je. "Demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld im Zuhören", sagte er damals. Und das wäre heute ganz wichtig – weil das Zuhören verloren geht wie die Geduld. Ja, Demokratie ist langsam, sie braucht Zeit, die wir (auch wir Medien) uns zu oft nicht nehmen. Vorhaben gehören durchdacht, gründlich, genau.
Die ins Gerede gekommene parlamentarische Demokratie gewährleistet diese Gründlichkeit – und zugleich ein hohes Maß an Flexibilität. Anders als die von vielen gewünschte direkte Demokratie: Damit, mit einem Referendum, haben die Briten den Brexit bekommen – und kriegen das Thema nicht vom Tisch. Hätte "nur" das genau dafür, für Entscheidungen, gewählte Parlament entschieden – das Votum wäre womöglich anders ausgefallen und/oder leichter nachjustierbar gewesen. Viele sehen neidvoll, wie schnell in der Türkei oder in China Großflughäfen verwirklicht werden. Aber BER wurde nicht wegen der Demokratie zur Lachnummer, sondern wegen Pleiten, Pech und Pannen von Ingenieuren und Bürokraten. Wir übertreiben es mit Regeln, da wäre weniger oft mehr. Doch die Bürger beteiligen und sich nicht, wie in Diktaturen, rigoros über ihre Einwände hinwegsetzen: Will das wirklich jemand preisgeben?
Freiheit und Mitverantwortung
Noch mal Willy Brandt: "Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert. Wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten."
Auch das ist hoch aktuell. Viele glauben, Demokratie sei eine Art Online-Shop: Ich klicke, was ich will – und dann muss die Politik ruck, zuck liefern. Nein. Demokratie lebt vom Mittun, Mitdenken vieler. Und es häufen sich die Ideen, wie das zu fördern ist: Im (kleinen) deutschsprachigen Teil Belgiens gibt es nun einen Bürgerrat. Da wurden Menschen quer durch die Bank per Los und bunt zusammengewürfelt dazu bestimmt, sich neben dem Parlament um Politik zu kümmern. Ein lehrreiches Experiment: Auffordern zum Mitmachen statt den Moserern zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Rezept, das auch Marina und Herfried Münkler in ihrem neuen Buch empfehlen. Demokratie neu wagen: Ein Auftrag, eine Aufforderung an uns alle.
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