Erinnerungen

Korrespondent blickt zurück: Der Wahlkampf war für mich wie ein Sechstagerennen

Harald Baumer

Berlin-Korrespondent der NN

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24.09.2021, 14:04 Uhr
Nun dauert es nur noch wenige Stunden, bis die Bürgerinnen und Bürger entschieden haben.

© Eckhard Stengel via www.imago-images.de, imago images/Eckhard Stengel Nun dauert es nur noch wenige Stunden, bis die Bürgerinnen und Bürger entschieden haben.

Der sechste Bundestagswahlkampf, den ich als Politikkorrespondent begleiten durfte, geht in wenigen Stunden zu Ende. Er wird mir als außergewöhnlich in Erinnerung bleiben. Egal, wie es am Sonntag ausgeht. Denn eines steht jetzt schon fest: Er hatte so viele Kipp- und Wendepunkte wie kein anderer Wahlkampf.

Was mir und vermutlich auch den meisten anderen Zuschauern den Atem raubte, das waren die Aufsehen erregenden Führungswechsel. Wir wähnten uns manchmal wie in einem Sechstagerennen.


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Alle, die antraten, hatten einmal ihre Hochphase, ihren großen Moment - und sahen während der restlichen Zeit ziemlich alt aus. Ein wenig erinnerte es an Andy Warhols Spruch „Jeder wird seine 15 Minuten Ruhm einmal genießen“. Hier eben: Jeder wird mal kurz am Kanzleramt schnuppern dürfen.

Grandioser Lauf der Union

Bevor es richtig losging, hatte die Union einen grandiosen Lauf. Fast das ganze Jahr 2020 und weit bis in das Wahljahr 2021 hinein, etwa bis März, bewegten sich CDU und CSU in einem Umfragenkorridor von 33 bis etwa 40 Prozent. Die Union hatte noch gar keinen Kanzlerkandidaten, was auch ganz gut für sie war, denn damit gab es auch keinen Streit um denselben. Bis zu dem Zeitpunkt trug die Beliebtheit von Angela Merkel ihr eigenes Lager über alle Aufs und Abs des Tagesgeschäfts hinweg. Die restlichen Parteien schienen chancenlos.

Dann folgte Stimmungswechsel Nummer eins - etwa im Mai. Kurz zuvor hatten die Grünen ihre Vorsitzende Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin erkoren. Das geschah komplett ohne öffentlichen Streit, auch wenn Robert Habeck seine Enttäuschung nicht ganz verbergen konnte. Die Meinungsforscher sahen die Grünen bei 25/26 Prozent und damit zeitweise vor der Union.

Die Ursachen dafür waren ein die Menschen bewegendes Thema (Klimaschutz), eine frische Kandidatin und auch irgendwie der Reiz des Neuen (Grüne im Kanzleramt). Die Union hatte sich gerade erst im Streit zwischen Markus Söder und Armin Laschet aufgerieben und lieferte so ziemlich das gegenteilige Bild der Grünen.

Ende des Baerbock-Hypes

Im Juni/Juli war aber schon wieder Schluss mit dem Baerbock-Hype. Nun setzten sich CDU und CSU an die Spitze - mit Werten zwischen 28 und 30 Prozent. Auch hier lieferte eine Doppelbewegung den Anlass für den Stimmungswechsel. Die Grünen Kandidatin wurde entzaubert, weil sie dem Bundestag Nebeneinkünfte zu spät gemeldet und ihren Lebenslauf geschönt hatte. Die Union hingegen war wenigstens nach außen hin etwas zur Ruhe gekommen, was das konservative Publikum mit höheren Zustimmungswerten dankte.

Etwa Ende August vollzog sich die bisher letzte dramatische Wende. Plötzlich hob Olaf Scholz seine SPD auf 25 bis 26 Prozent und damit in ungeahnte Höhen. Man muss in den Umfragearchiven bis zu vier Jahre zurückgehen, um solche Werte für die SPD zu finden. Der Grund dafür war - keine Überraschung - erneut eine Doppelbewegung. Erstens ein Laschet, der mit Ausfällen irritierte (sein Lachen im Juli, seltsame Aufnahmen vor den Müllhalden der Flut). Zweitens ein Scholz, der sich zunehmend mit Erfolg als Angela Merkels wahrer Erbe inszenierte.

Wohlgemerkt: Überraschende Wenden und Kipppunkte in Wahlkämpfen gab es immer wieder. Gerhard Schröder holte im Herbst 2005 sagenhafte 23 Prozentpunkte Rückstand gegenüber der Union auf. Wäre nur eine Woche später gewählt worden, hätte vielleicht die SPD das Ergebnis von CDU/CSU übertroffen und den Kanzler behalten. So lag sie am Ende um einen Prozentpunkt hintendran.

"Schulz-Zug" ausgebremst

Oder auch 2017. Da schien Martin Schulz (SPD) im Februar und März des Jahres auf bestem Wege, die Kanzlerschaft Angela Merkels zu beenden. Man sprach von einem "Schulz-Zug", der schwer aufzuhalten sei. Der Spitzenwert der Sozis betrug 32 Prozent, schmolz aber bis zum Wahltag auf 20,5 Prozent und damit auf das schlechteste Ergebnis der Nachkriegszeit.

Die beiden eben beschriebenen Ereignisse unterscheiden sich aber wesentlich von denen des Jahres 2021. Denn es gab jeweils nur einen spektakulären Umschwung der Wählergunst. Heuer könnten es drei oder gar vier werden. Denn es ist ja noch lange nicht ausgemacht, ob die Union nicht am Wahltag wieder nach oben klettert - entgegen aller derzeitigen Prognosen. Bei Landtagswahlen war dieses Phänomen schon mehrfach zu beobachten, zuletzt in Sachsen-Anhalt. Aber jetzt muss ich nicht weiter spekulieren, denn am Sonntag um 18 Uhr werden wir es ja wissen.

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