Lehrermangel: Bildungsforscher nehmen Ministerium in Schutz

dpa

11.1.2020, 15:50 Uhr

In Bayerns Lehrerzimmern kochen die Emotionen. Vor allem aus den Grundschulen hört man allerorten von maximalem Frust, zerstörten Lebensplanungen und Vertrauensverlust. Anlass ist die Anordnung, dass die meisten Grundschullehrer in Vollzeit künftig eine Stunde pro Woche zusätzlich unterrichten müssen. Der vorgezogene Ruhestand wird - auch für Mittel- und Förderschullehrer - nach hinten geschoben, für Teilzeitler steigt die Mindeststundenzahl, Sabbatjahre sind passé. Ziel ist die Bekämpfung des Lehrermangels. Was von den Betroffenen als Zumutung empfunden wird, ist dem Kultusministerium nach Ansicht von Bildungsforschern aber nicht anzulasten.

Periodische Schwankungen zwischen Lehrermangel und Lehrerüberschuss gibt es seit Jahrzehnten. Doch warum bekommen die Kultusministerien diesen sogenannten Schweinezyklus nicht in den Griff? Schließlich weiß man doch, wie viele Kinder geboren und entsprechend sechs Jahre später eingeschult werden. Auch die Altersstruktur der Lehrkräfte ist bekannt. Müsste man da nicht rechtzeitig die entsprechende Zahl an Nachwuchskräften einstellen können? Ganz so einfach ist es nicht.

Lob von Bildungsforscher

"Bayern macht es schon exemplarisch gut", lobt etwa Bildungsforscher Dirk Zorn von der Bertelsmann-Stiftung mit Blick auf die jährliche Lehrerbedarfsanalyse. Auch die Einstellungspraxis sei im Freistaat ungewöhnlich großzügig. "Dass es dennoch nun zu diesen drastischen Maßnahmen kommt, zeigt einfach die Schwierigkeit der Materie."

Hauptfaktor für die aktuelle Misere: Die seit nunmehr sieben Jahren rapide steigende Geburtenzahl. Jahrelang war sie vergleichsweise stabil, 2011 gab es knapp 104.000 Neugeborene im Freistaat. Doch 2015 waren es schon mehr als 118.000. Und im Jahr 2018 verzeichnete das Statistische Landesamt gar 127.616 Babys. "Wir haben seit Jahren eine familienfreundliche Politik gemacht, und oh Wunder - es hat funktioniert! Doch die Politik war nicht darauf eingestellt", resümiert der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm mit spitzer Zunge.

Er räumt allerdings ein, dass er diesen gewaltigen Anstieg trotz jahrzehntelanger Erfahrung so ebenfalls nicht vorhergesehen habe. Außerdem dürfe man nicht vergessen, wie schwerfällig das Ausbildungssystem sei. "Selbst wenn die Politik bereits 2014 reagiert und die Ausbildungskapazitäten erhöht hätte, hätten wir frühestens 2021 eine höhere Zahl von ausgebildeten Lehrkräften. Die Politik hat in dem Sinne nicht geschlafen."

Schließlich dauere es, bis ein stabiler Aufwärtstrend bei den Geburten zu erkennen sei. Dann müssten neue Lehrstühle geschaffen und besetzt werden - was schonmal zwei Jahre dauern kann, wie der emeritierte Professor der Universität Duisburg-Essen aus Erfahrung weiß. Dann müsse es genügend motivierte Bewerber geben - ein Numerus clausus (NC) wie in Bayern, wo nur gute Abiturienten Grundschullehramt studieren dürfen, sei da nicht gerade hilfreich. Zu guter Letzt müssten die Kandidaten dann sechs bis sieben Jahre studieren - so sie denn ihr Studium überhaupt erfolgreich beenden.

Fast die Hälfte der angehenden Lehrer studiert nicht zu Ende

Daran hapert es erschreckend oft. Rund 42 Prozent beträgt die "Schwundquote" nach einer Auswertung des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) allein bis zum ersten Staatsexamen. Bei den Grundschulen seien es nur knapp 30 Prozent; unter anderem, weil Wechsler aus anderen Schularten die Lücken der Abbrecher auffüllten.

Neben Geburtenzahl und Schwundquote gibt es weitere Faktoren, die es schwer machen, den tatsächlichen Bedarf an Lehramtsstudenten vorherzusagen. Dazu zählt zum Beispiel die Migration, und zwar sowohl innerhalb Deutschlands als auch aus dem Ausland - wobei letztere mit Blick auf die Schülerzahlen aktuell keine allzu große Rolle spielt. Auch politische Entscheidungen wie der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschüler erhöhen den Bedarf. Und dann ist da noch die Inklusion: Wenn Regelschulen Kinder mit Behinderung unterrichten, bekommen sie dafür einen höheren Personalschlüssel zugewiesen.

Anreize für Teilzeitkräfte und angehende Ruheständler

Unterm Strich fehlt dem Münchner Kultusministerium zufolge der Umfang von 1400 Vollzeitstellen für das nächste Schuljahr. "Wir haben jetzt eine Durststrecke, in der wir nur mit Notmaßnahmen zurechtkommen", betont Klemm deshalb. Experte Zorn sieht dies genauso. Er nennt drei Hebel, um den Unterricht dennoch zu gewährleisten. "Man sollte angehende Ruheständler, so sie rüstig sind und das wollen, ermutigen, noch ein paar Jahre länger zu unterrichten." Andere Bundesländer hätten dazu bereits die Hinzuverdienstgrenzen erhöht.

"Dann sollte man den Teilzeitkräften Anreize geben, ihr Deputat aufzustocken", schlägt Zorn vor. Allerdings nicht verpflichtend, wie in Bayern gerade angeordnet, "weil das die Attraktivität des Berufs und auch die Moral der Belegschaft zu unterhöhlen droht". Deshalb hält Zorn auch nichts von der vorübergehenden Anhebung der Stundenzahl für Vollzeit-Grundschullehrer von 28 auf 29 Stunden, auch wenn die Mehrarbeit in Form eines Arbeitszeitkontos in einigen Jahren zurückgezahlt werden soll.

Trotz aller Bemühungen müssen laut Zorn zudem Lehrkräfte gewonnen werden, die nicht für den Unterricht von Grundschülern ausgebildet sind. Bayern setzt derzeit noch auf eine nachträgliche Qualifizierung von Real- und Gymnasiallehrern. In anderen Bundesländern reicht dies längst nicht aus: So sind in manchen Berliner Bezirken zwei Drittel aller Neu-Lehrer keine Pädagogen. Sie bekommen oftmals nur einen Mini-Crashkurs, bevor sie vor die Klassen gestellt werden.

Wissenschaftler, Kultusminister und Lehrerverbände halten das für keine gute Lösung. Um langfristig den Schweinezyklus zu durchbrechen, müsse man deshalb auch über Studienstrukturen nachdenken, mahnt Zorn - und über eine höhere Besoldung. Denn Grund- und Mittelschullehrer werden in Bayern weiterhin schlechter bezahlt als Real- und Gymnasiallehrer. Doch ein solcher Schritt ist für viele Landtagspolitiker derzeit noch undenkbar.

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