Leitartikel: Sagen, was ist

22.8.2017, 19:07 Uhr

Zugegeben, 1972 ist schon ziemlich lange her. Aber es war ein wichtiges Jahr, nicht nur wegen der Olympischen Spiele in München. Viele Deutsche hatten da erst, über zwei Jahrzehnte nach Gründung der Bundesrepublik, die Demokratie entdeckt. Es war Wahlkampf, und es gab heftige Debatten.

Über die Ostverträge, die eine Annäherung an die Staaten des Warschauer Pakts einleiten sollten. Über ein liberales Abtreibungsrecht. Und über eine Lockerung des Sexualrechts. Es war ein Wahlkampf, der — trotz einiger Tiefschläge und schriller Töne — dem Lehrbuch der Demokratie nahekam: Sagen, was ist. Und erklären, was sein soll. Die Deutschen entschieden sich mehrheitlich für den Weg in die Moderne und gaben der damaligen SPD/FDP-Regierung die Chance einer zweiten Amtszeit.

Wahlkampf ist jetzt wieder, aber 1972 ist nicht nur in Jahren gerechnet weit weg. Irgendwie findet jetzt Kanzlerin Merkel Elektroautos gut, nachdem sie verstanden hat, wie sehr der Dieselskandal die Menschen beschäftigt. Aber eine feste Quote, wie dies ihr SPD-Herausforderer Martin Schulz vorgeschlagen hat, will sie eher nicht. Dafür muss man schon dankbar sein — denn ansonsten finden sich nicht viele Themen.

Gefahr für die Demokratie

Das ist nicht nur schade, das ist gefährlich. Für die Demokratie und damit für dieses Land. Denn es gibt mindestens drei Megathemen, die dringend auf die Tagesordnung gehören — einfach damit die Wähler wissen, woran sie sind.

Das allerwichtigste Thema ist die soziale Ungleichheit, die seit den Hartz-IV-Gesetzen und dem Ausbau des Niedriglohnsektors stieg. Derzeit nimmt sie wenigstens nicht zu, aber der Abstand zwischen einem Mindestlohnempfänger und dem Vorstandsvorsitzenden eines Dax-Konzerns ist exorbitant groß — und zwar so sehr, dass keiner mehr sagen kann, dies sei durch Leistung gerechtfertigt.

Das wird noch potenziert durch den Fakt, dass Kinder aus armen Familien kaum Aufstiegschancen haben. Das Bildungssystem ist leider nicht so, dass diese Mädchen und Jungen eine angemessene Förderung erhalten.

Zukunft der Rente

Dann ist da die Zukunft des Rentensystems, dessen Leistungen nach und nach deutlich reduziert werden. Aufgefangen werden sollte das eigentlich durch das Angebot der Riesterrente; doch das kann man getrost als gescheitert betrachten. Wer diese Zusatzleistung am ehesten bräuchte, hat nicht das Geld, um dafür anzusparen. Außerdem sind etliche Verträge so konstruiert, dass sie nur eine schlechte Rendite abwerfen.

Das dritte Megathema handelt von Flucht und Integration. Die Bundesrepublik muss Wege finden, die Zuwanderung menschenwürdig zu steuern — und mit jenen anständig umzugehen, die bei uns Zuflucht suchen. Das kann durchaus bedeuten, dass fähige Kräfte aus Drittweltländern ohne Asylantrag in bestimmtem Umfang kommen dürfen. Und dass gut integrierte Migranten bleiben dürfen, selbst wenn sie keinen Schutzstatus erhalten haben.

Diese Themenbereiche haben alle eines gemeinsamen: Werden sie ignoriert, löst das Angst aus, vor sozialem Absturz, vor Altersarmut, vor Konkurrenz und Überfremdung. Angst aber ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber; ein Gutteil des Erfolges der AfD ist auf solche, irrationale Verhaltensweisen zurückzuführen.

Solche Befürchtungen lassen sich aber, zumindest in diesem Fall, durch politischen Diskurs verringern. Martin Schulz versucht es jedenfalls immer wieder, stößt aber nicht auf große Resonanz. Die Amtsinhaberin will sich auf solche Debatten nicht einlassen. Das mag ihr wahltaktisch nutzen, wird sich aber womöglich auf lange Sicht rächen — für sie selber und noch mehr für das Land.

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