Sozialleistungen

Lindner will bei Bürgergeld kürzen - Scholz reagiert kühl

23.10.2024, 05:02 Uhr
FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner sieht Einsparmöglichkeiten beim Bürgergeld.

© Soeren Stache/dpa FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner sieht Einsparmöglichkeiten beim Bürgergeld.

Der Staat soll nach einem neuen Vorstoß von FDP-Chef Christian Lindner bei den Wohnkosten für Menschen im Bürgergeld sowie bei den geflüchteten Ukrainern Milliarden einsparen. So will Lindner, dass Bürgergeld-Empfängerinnen und -Empfänger ihre Wohnkosten künftig pauschal und nicht nach tatsächlichen Kosten erstattet bekommen. "Dann können die Leistungsempfänger entscheiden, ob sie eine kleinere Wohnung beziehen und wie sie heizen", sagte der Bundesfinanzminister der "Wirtschaftswoche". 

"Ich glaube, dass wir hier Milliarden Euro einsparen können." Den Ukrainerinnen und Ukrainern will der Finanzminister geringere monatliche Zahlungen gewähren. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lässt kühl ausrichten, er habe "die Äußerung des Finanzministers zur Kenntnis genommen". Weiter sagt Scholz-Sprecher Steffen Hebestreit: "Aber dazu gibt es im Augenblick keine übergeordneten Planungen innerhalb der Bundesregierung."

Auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zeigt sich wenig angetan von Lindners erneuter Offensive gegen seinen sozialpolitischen Kurs. Eine prompte Reaktion kam zudem von der Linken im Bundestag: "Es ist immer dieselbe Leier."

Staat zahlt bei 2,7 Millionen Familien für Unterkunft

Kosten der Unterkunft werden derzeit bei 2,73 von den 2,94 Millionen Bedarfsgemeinschaften - meist zusammenwohnenden Familien - anerkannt - Kostenpunkt: 1,77 Milliarden Euro. 43 Millionen Euro für einmalige Ausgaben kommen dazu.

Bezahlt werden im Schnitt pro Familie rund 650, pro Person 363 und pro Quadratmeter 12 Euro. Flächenschnitt: pro Familie 62 und pro Person 35 Quadratmeter. Extra ausgewiesen werden für 2,68 Millionen Haushalte Mietkosten, für 46.000 Haushalte Kosten bei Wohneigentum.

Mieten unterscheiden sich je nach Ort stark

Arbeitsminister Heil lässt wissen: "Die Kosten der Unterkunft einschließlich der Nebenkosten zu pauschalieren, birgt die Gefahr einer Kostenexplosion", so eine Sprecherin. Denn eine angemessene Wohnung zähle zum verfassungsrechtlichen Existenzminimum. "Eine Pauschale müsste also so gestaltet sein, dass sie eine angemessene Wohnung sicherstellt."

Wenn es nur eine Pauschale geben solle, müsste die so hoch sein, "dass man sich damit eine Wohnung genauso gut in München wie in Merseburg leisten kann". Merseburg liegt in Sachsen-Anhalt. Die Mieten sind dort im Schnitt deutlich niedriger als in der bayerischen Landeshauptstadt. "Lebenspraktisch" sei eine neue Wohnung auch bei Weitem nicht immer günstiger als ein alter Mietvertrag.

Was übernimmt der Staat?

Der Staat übernimmt bei Bürgergeld-Beziehenden angemessene Aufwendungen für Unterkunft und Heizung. Auch Schönheitsreparaturen oder Kabelgebühren können übernommen werden. Wohnt jemand in Eigentum, wird etwa die Grundsteuer übernommen.

Verantwortlich für Bürgergeld sind die Bundesagentur für Arbeit (BA) sowie Kreise und Städte, wie eine Sprecherin der BA in Nürnberg erläuterte. Bei Unterkunft und Heizung sind es die Kommunen. Sie regeln, was lokal angemessen ist.

Lindner will auch bei Ukrainern sparen

Neben den Wohnkosten will Lindner noch an anderer Stelle sparen. "Wir sollten für die aus der Ukraine Geflüchteten einen eigenen Rechtsstatus erwägen", sagte er. Bekommen sollen sie nur noch Asylbewerber-Leistungen und Arbeitsmarkt-Instrumente. "Ukrainer (...) sollten (...) nicht gleich ein Bürgergeld erhalten, das auf ein sozioökonomisches Existenzminimum mit gesellschaftlicher Teilhabe auch ohne Arbeit ausgerichtet ist."

Seit 2022 gilt für ukrainische Kriegsflüchtlinge EU-weit die "Massenzustrom-Richtlinie", wie der Mediendienst Integration erläutert. Der Vorteil sei: "Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine (...) bekommen automatisch einen Aufenthaltsstatus." Derzeit ist sie bis März 2026 verlängert.

In Deutschland können die Menschen aus dem angegriffenen Land Bürgergeld erhalten. Alleinstehende zum Beispiel 563 Euro pro Monat. 2025 gibt es eine Nullrunde: Die Bürgergeld-Sätze bleiben unverändert. Hinzu kommen Hilfen für Miete und Heizung sowie Krankenversorgung.

Weniger gibt es für Asylbewerberinnen und Asylbewerber mit noch offenen Asylanträgen: 460 Euro pro Monat nach Asylbewerberleistungsgesetz. Beratung durch das Jobcenter bekommen sie noch nicht.

Rund eine halbe Million erwerbsfähige Ukrainer

Seit Russlands Überfall 2022 haben rund 1,2 Millionen Menschen aus der Ukraine in Deutschland Schutz gefunden. Knapp 65 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer beziehen Bürgergeld - im Vergleich zu anderen Nationalitäten ein hoher Wert.

Rund 529.000 Ukrainerinnen und Ukrainern waren im Mai 2024 nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit als "erwerbsfähig" bei den Jobcentern gemeldet und Bürgergeld-berechtigt. Viele sind noch in Jobcenter-Maßnahmen oder Integrationskursen. Alleinerziehende mit Kindern ohne Kitaplatz sind oft in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit.

Nicht jeder mit Bürgergeld könne einen Job annehmen, stellt der Mediendienst Integration fest. 37 Prozent der erwerbsfähigen Ukrainerinnen und Ukrainer standen im Mai 2024 für den Arbeitsmarkt zur Verfügung - 4.000 weniger als im April.

2,7 Millionen Ausländer beziehen Bürgergeld

Die Zahl der Ausländerinnen und Ausländer mit Bürgergeld insgesamt ist in den vergangenen Jahren deutlich auf zuletzt 2,7 Millionen gestiegen. Das ist fast jede und jeder Zweite mit Bürgergeld. Hauptgrund für den Anstieg ist die Fluchtbewegung aus der Ukraine.

Zuletzt hatte BSW-Gründerin Sahra Wagenknecht deswegen gesagt, der deutsche Sozialstaat werde bedroht. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) wertet hingegen als Erfolg, dass immer mehr Ukrainerinnen und Ukrainer in Jobs vermittelt würden, wie Vorstandsmitglied Anja Piel deutlich macht.

Experten verteidigen "nachhaltige Strategie"

Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB), der Thinktank der BA, verteidigt die im Bürgergeld-System angelegte "nachhaltige Strategie", wie IAB-Forschungsleiter Enzo Weber sagte. Menschen würden nicht so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt gebracht - aber mit Deutsch und Qualifizierung.

Laut IAB gehen inzwischen pro Monat doppelt so viele Ukrainerinnen und Ukrainern aus der Arbeitslosigkeit in Jobs wie im Vorjahr. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte kürzlich den von Arbeitsminister Heil gestarteten "Job-Motor" für Flüchtlinge in Deutschland als Erfolg gewertet: 266.000 Flüchtlinge aus der Ukraine seien derzeit mit Job in Deutschland.

Linke lobt Regierung - und attackiert Lindner 

Schäbigkeit und Rechtspopulismus wirft die Linke Lindner vor. Ihre Fluchtexpertin im Parlament, Clara Bünger, sagte: "Anstatt (...) Geld bei den Reichen zu holen, greift Bundesfinanzminister Lindner jene an, die ohnehin wenig haben." Die Gründe für die Bedürftigkeit vieler Betroffener seien fehlenden Kitaplätze, Hürden bei der Anerkennung von Abschlüssen oder lange Wartezeiten auf Sprachkurse.

Für eine Linke-Politikerin ungewohnt ist ein Lob Büngers: "Das weiß auch die Bundesregierung und bemüht sich darum, diese Barrieren abzubauen (...)." Linken-Vize Lorenz Gösta-Beutin sagte: "Lindner will Arme vertreiben und ihnen die Heizung abstellen."

Wagenknecht fordert Sanktionen "für diejenigen, die sich lieber im Modell Bürgergeld plus Schwarzarbeit einrichten möchten". Für Alleinstehende war das Bürgergeld Anfang des Jahres um 61 auf 563 Euro im Monat gestiegen. Bezahlt werden in der Regel zudem Wohnen und Heizung. 2025 gibt es eine Nullrunde bei der Entwicklung der Regelsätze.

Viele brauchen aufstockende Leistungen

Dient das Bürgergeld also auch als zentraler Baustein für Menschen, die sich ihren Alltag möglichst so zusammenbasteln, dass sie ohne großen Aufwand gut durchkommen? Heils Sprecher stellt fest: "Es gibt keine Hinweise darauf, dass das Bürgergeld Menschen dazu verleitet, nach kurzer Zeit wieder in den Leistungsbezug zurückzukehren." Ausschlaggebend dafür, dass Menschen weiterhin auf Bürgergeld angewiesen seien, seien vielmehr "strukturelle Faktoren". Angeführt werden etwa niedrige Löhne und Teilzeitarbeit.

Was ist der Hauptgrund für den längerfristigen Bezug von Bürgergeld? "Dies liegt oft daran, dass das Erwerbseinkommen nicht ausreicht, um die Hilfebedürftigkeit der gesamten Bedarfsgemeinschaft zu überwinden", sagte der Ministeriumssprecher. Viele Personen, die arbeiten, seien schlicht weiterhin auf aufstockende Leistungen angewiesen - wegen niedriger Löhne, Teilzeitarbeit oder großer Bedarfsgemeinschaften, also in der Regel Familien. "Besonders betroffen", sagte Heils Sprecher, "sind hierbei Personen mit Kindern und geringen Entgelten, für die es schwierig ist, die Hilfebedürftigkeit vollständig zu überwinden."

Mit Kindern fällt es vielen schwerer

Dabei hat sich in der vergangenen Jahren grundsätzlich wenig geändert. Sind heute etwa 50 Prozent der Personen, die bereits in den Arbeitsmarkt integriert sind, sechs Monaten nach diesem Schritt weiterhin im Bürgergeld, so lag dieser Anteil vormals nicht allzu viel niedriger. 2019 und 2020 waren es 46 Prozent. Der Anteil derer, die sechs Monate nach ihrer Integration weiterhin sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, ist im Vergleich zu 2019 um vier Punkte von damals 60 Prozent gestiegen.

Auffällig laut Ministerium: Personen mit Berufsausbildung weisen eine höhere Quote der kontinuierlichen Beschäftigung auf. Sie verlassen den Leistungsbezug öfter. Dies fällt auch Alleinstehenden im Schnitt deutlich leichter als Personen mit Kindern.

Inwieweit rechnet es sich Arbeit für Menschen mit Bürgergeld?

In aller Regel bekommt man mit Arbeit im Monat deutlich mehr aufs Konto als mit Bürgergeld. Allerdings lohnt sich ein Arbeitseinkommen für Beziehende von Leistungen nicht immer. Blickpunkt große Bedarfsgemeinschaften mit Erwerbseinkommen: Hier besteht oft ein Anspruch auf ergänzende Leistungen wie Bürgergeld, Kinderzuschlag oder Wohngeld. Wenn man das zusammennimmt, bekommen die Betroffenen oft nicht viel mehr Einkommen insgesamt zusammen, wenn sie eine bestehende Arbeit etwas ausweiten.

Blickpunkt Alleinerziehende

Heils Ministerium wollte genau wissen, wann sich Arbeit (nicht) lohnt - und gab ein Gutachten in Auftrag. Es liegt seit 2023 vor. Die 65-Seiten-Expertise der Institute ifo (München) und ZEW (Leipzig) zeigt: Mehrarbeit lohnt sich für Alleinerziehende oft nicht. Beispiel einer Mutter mit zwei Kindern: Ohne Arbeitseinkommen fließen demnach 2.169 Euro Sozialleistungen, bei einem Minijob-Lohn von 520 Euro bleiben 2.353 Euro auf dem Konto, bei 1.000 Euro insgesamt 2.823 Euro - aber bei 1.500 Euro Arbeitseinkommen brutto nur wenig mehr. Nämlich 2.907 Euro. Die Forscher schreiben: "Es existieren also nach wie vor Einkommensbereiche, in denen (...) sich zusätzliches Bruttoerwerbseinkommen kaum und mitunter sogar negativ auf das verfügbare Einkommen auswirkt."

Wie sich Arbeit mehr lohnen könnte

Die Forscher schlagen vor, bei den Gruppen von Bürgergeld-Beziehenden, bei denen es sich heute wenig lohnt, mehr zu arbeiten, im Fall von Mehrarbeit das Bürgergeld nicht so stark wie heute zu kürzen. Denn bei ihnen sei eine Ausweitung der Beschäftigung heute finanziell wenig attraktiv, "weil die erhaltenen Sozialleistungen in der Folge stark sinken". Eine solche Reform würde, so die Institute, die verfügbaren Einkommen von
Transferempfängerinnen und -empfängern in einigen Einkommensbereichen erhöhen. Erwerbsanreize und somit Beschäftigung könnten steigen. Der Staat müsse zwar mehr Bürgergeld bezahlen - aber könne auch mit mehr Steuereinnahmen rechnen.

Die Haushalte, bei denen dies rechnerisch zu erwarten ist, sind laut den Forschern jene mit Einkommen von mehr als 520 Euro pro Monat sowie Haushalte mit mehr als 2.000 Euro Haushaltseinkommen monatlich. Die Institute schlagen hierfür vor, die geltenden unterschiedlichen Kürzungsraten für das Bürgergeld im Fall eines höheren Arbeitslohns zu verringern. Die Betroffenen hätten so unterm Strich am Monatsende spürbar mehr auf dem Konto.

Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Gespräch mit einer aus der Ukraine geflüchteten Frau. Sie hat einen Job gefunden. (Archivbild)

Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Gespräch mit einer aus der Ukraine geflüchteten Frau. Sie hat einen Job gefunden. (Archivbild) © Britta Pedersen/dpa