Mammutschichten, Patientenklagen, Bürokratie - Klinikärzte schieben Frust

01.08.2002, 00:00 Uhr

30 von 52 Wochenenden des vergangenen Jahres bescherten dem 40-jährigen Marktredwitzer Assistenzarzt einen solchen Marathon-Dienst von 30 Stunden und mehr. 60-Stunden-Wochen sind der Normalfall an deutschen Krankenhäusern. Nicht nur die betroffenen Ärzte und ihre Familien leiden darunter. „Solche Mammutschichten bedeuten auch eine Gefährdung der Patienten”, behauptet Beer. Gerade an kleinen Krankenhäusern müssen nicht selten übermüdete Mediziner mehrstündige, komplizierte Notfalloperationen durchführen. Kaum einer wehrt sich gegen die Überforderung. „Wer Facharzt werden will, muss den Mund halten, sonst wird er vom Chef auf dem OP-Plan vergessen.” Wer die vorgeschriebene Zahl von Operationen nicht erreicht, kann wiederum seinen Facharzt vergessen. Thomas Beer zog Ende letzten Jahres gegen die unzumutbaren Arbeitszeitbedingungen vor das Arbeitsgericht Bayreuth/Hof - und bekam Recht.

Nichts geändert

Und wie sieht Beers Berufsalltag am Klinikum Fichtelgebirge jetzt aus? „Genauso wie vorher.” An der Praxis, Bereitschaftsdienste nicht oder nur eingeschränkt zur tariflich festgelegten Arbeitszeit zu zählen, wurde festgehalten. Der kommunale Klinikbetreiber ging in Berufung. Beer und all seinen Kollegen an deutschen Krankenhäusern nutzt auch der Umstand recht wenig, dass bereits im Oktober 2000 spanische Ärzte erfolgreich vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die derzeitige Arbeitszeitregelung klagten. Ein in Aussicht gestelltes Reformkonzept des Bundesarbeitsministeriums lässt auf sich warten.

Grund zur Eile gäbe es genug. Die Zeiten, da der Arztberuf scharenweise den Nachwuchs anzog und bei einem Abiturschnitt von „Einskomma” das Medizinstudium fast schon Pflicht war, sind nämlich vorbei. Selbst ohne die Umsetzung des europäischen Urteils, die schätzungsweise 20 000 zusätzliche Stellen und Mehrausgaben von einer Milliarde Euro bedeuten würde, droht dem Land ein Ärztemangel. Und das hat durchaus etwas mit den nicht gerade attraktiven Arbeitsbedingungen eines Krankenhausmediziners zu tun. Zumal die Gehälter mit denen von Spitzenjobs in der freien Wirtschaft nicht mithalten. Nach 14 Berufsjahren verdient etwa Thomas Beer rund 3500 Euro netto im Monat.

Doch der Niedergang des Medizinerberufs hat auch noch andere Gründe. „Der Beruf ist auch uninteressanter geworden, weil die eigenverantwortlichen Tätigkeiten immer weniger werden”, sagt Werner Grünsteidel, Chefarzt der Gynäkologie am Stadtkrankenhaus Schwabach. Unter Druck geraten sind die Klinikmediziner seiner Ansicht nach zum einen durch die Rechtsprechung, die dem Patienten den Anspruch auf optimale fachliche Behandlung zusichert. Aus der Perspektive des Kranken eine Selbstverständlichkeit, aus der Sicht der verantwortlichen Mediziner ein nicht geringes Problem. Grünsteidel: „Als Chefarzt muss man ständig überlegen, wen man was machen lassen kann. Früher konnte man Assistenzärzte schön langsam an alles hinführen, heute wagt man es kaum, sie das erste Mal operieren zu lassen.” Der Schwabacher Chefarzt hat seine Konsequenzen gezogen. In seiner kleinen Abteilung arbeiten außer ihm ein Oberarzt und zwei fertig ausgebildete Fachärzte - kein Assistenzarzt, kein Arzt im Praktikum.

Die Angst, jede ärztliche Maßnahme vor Gericht verantworten zu müssen, hat in den letzten Jahren zudem zu einer immer stärkeren Reglementierung der Arbeit im Krankenhaus geführt. Leitlinien legen fest, in welchem Fall was genau zu tun ist. Hinzu kommen statistische Protokollierungen, Qualitätssicherungsprogramme, Verwaltungsarbeiten . . . „Du bist den ganzen Tag am Schreiben”, sagt Werner Grünsteidel, „und für die Arbeit am Patienten bleibt zwangsläufig immer weniger Zeit.”

So ist denn schön langsam eine regelrechte Flucht aus dem Beruf des Klinikarztes zu beobachten. Stellen, die früher als weniger attraktiv galten, besitzen plötzlich hohe Anziehungskraft: Gesundheitsämter, Krankenkassen, Beratungsunternehmen oder Pharmakonzerne haben keine Probleme, Mediziner zu gewinnen. Krankenhäuser, vor allem kleine in der Provinz, tun sich dagegen bei der Personalsuche immer schwerer. „Auf die letzte Oberarztstelle mit Chefvertretung hat sich gerade mal ein Bewerber gemeldet, früher waren es zehn bis 20”, sagt Chefarzt Grünsteidel.

Viele Studienabbrecher

Und selbst am Nürnberger Klinikum, das mit renommierten Spezialisten einen guten Ruf besitzt, tut man sich zunehmend schwer. Zuletzt, so berichtet Klinikumsvorstand Klaus Wambach, mussten offene Stellen in der Geriatrie und in der Kinderchirurgie mehrfach ausgeschrieben werden. „Der Ärztemangel wird kommen”, prophezeit Wambach.

Ins Bild passen die alarmierenden Zahlen der Universitäten. 30 bis 40 Prozent der Humanmedizin-Studenten brechen nach Angaben der Bundesärztekammer ihr Studium ab. Von denen, die das Examen machen, wechselt noch einmal ein großer Teil in die oben aufgelisteten, alternativen Berufsfelder. So gar nicht passt diese Entwicklung zu der Tatsache, dass die Patientenzahl kontinuierlich steigt. Ins Bewusstsein von Politik und Öffentlichkeit wird das Problem spätestens in den nächsten fünf bis zehn Jahren rücken, wenn etwa 40 Prozent der Hausärzte in Ruhestand gehen. Nicht nur in der Provinz werden dann reihenweise Praxen geschlossen werden. Dringend fordern Ärzteorganisationen ein Gegensteuern der Politik. Kostenneutral wird dies nicht funktionieren. Doch viel knapper als der Ärztenachwuchs ist im Gesundheitssystem heute schon das Geld.