Mehr als 70.000 durch türkische Offensive in Syrien auf der Flucht

dpa

11.10.2019, 13:59 Uhr

Seit Beginn der türkischen Offensive in Nordostsyrien sind nach Angaben humanitärer UN-Organisationen innerhalb von 48 Stunden mehr als 70 000 Menschen vertrieben worden. Die meisten Menschen seien aus den Regionen Ras al-Ain und Tall Abjad geflüchtet, berichtete das UN-Welternährungsprogramm (WFP) am Freitag in Genf. Das UN-Menschenrechtsbüro berichtete über "verstörende Berichte" von Bodenangriffen türkischer Truppen oder von Gruppen, die dem türkischen Militär nahestünden.

Es seien unter anderem die Wasserversorgung, Dämme, Kraftwerke und Ölfelder getroffen worden, sagte ein Sprecher. Nach einem türkischen Luftangriff sei nach Berichten die Wasserversorgung in der Region Aluk zusammengebrochen. In Al-Rakka hätten die lokalen Behörden vier Zentren für Vertriebene eingerichtet, berichtete das WFP.

Appell auch von Ärzte ohne Grenzen

"Die Militäroperationen in Nordostsyrien dürften die bereits sehr angespannte humanitäre Situation noch verschärfen", warnte Najat Rochdi, im Büro des UN-Syrien-Beauftragten zuständig für humanitäre Fragen. Alle appellierten an die Akteure vor Ort und Regierungen, die Einfluss auf sie haben, Zivilisten zu schützen.

Einen ähnliche Appell veröffentlichte die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF). Sie rief am Freitag in einer Stellungnahme alle Kriegsparteien dazu auf, den Schutz von Zivilisten, Gesundheitspersonal und Patienten zu gewährleisten. Die Eskalation der Gewalt könne "das Trauma", dass die syrische Bevölkerung in Jahren des Krieges schon erlitten habe, nur verschlimmern.

MSF berichtete, dass das von ihnen unterstützte Krankenhaus in der syrischen Grenzstadt Tall Abjad geschlossen worden sei, weil der größte Teil der Angestellten mit ihren Familien die Stadt verlassen habe. Tall Abjad nahe der türkischen Grenzstadt Akcakale ist ein Hauptfokus der türkischen Offensive. "Als das einzige öffentliche Krankenhaus in der Gegend war das Tall-Abjad-Krankenhaus sehr wichtig für die Gesundheitsversorgung der Stadt und des Umlands", heißt es in der Stellungnahme weiter.

"Wir wollen diese Solidarität klar und deutlich sehen"

Die Türkei verlangt angesichts ihrer umstrittenen Militäroffensive in Syrien von der Nato ein "klares und deutliches" Bekenntnis der Solidarität. In einer Pressekonferenz mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Freitag: "Im Rahmen des Grundsatzes der Unteilbarkeit der Sicherheit ist es unsere natürlichste und legitimste Erwartung, dass sich unsere Alliierten mit uns solidarisieren. Es reicht also nicht zu sagen, "wir verstehen die legitimen Sorgen der Türkei". Wir wollen diese Solidarität klar und deutlich sehen."

Die Offensive, die seit Mittwochnachmittag läuft, richtet sich gegen die kurdische YPG-Miliz, die auf syrischer Seite der Grenze ein großes Gebiet kontrolliert. Die Türkei sieht in ihr einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation. Die Offensive war international auf scharfe Kritik gestoßen.

"Sind hier, um die Türkei zu beschützen"

Stoltenberg sagte, er habe seine "ernsten Bedenken hinsichtlich einer Destabilisierung der Region" geteilt und habe die Regierung gebeten, "zurückhalten zu agieren". Er betonte, die Türkei sei ein starker und wichtiger Nato-Verbündeter. Kein Verbündeter habe mehr unter Terroranschlägen gelitten als die Türkei. Die Nato sei der Sicherheit der Türkei stark verpflichtet. "Wir sind hier, um die Türkei zu beschützen und auch, um uns selbst zu beschützen."

Cavusoglu verteidigte die Offensive. Er argumentierte, wenn schon jeder einsehe, dass die Sorgen der Türkei "legitim" seien, dann müsse auch der Kampf gegen den Verursacher der Sorgen legitim sein. "Ihr habt diese Terrororganisation mit Waffen ausgestattet und sie ausgebildet. Das ist nicht mein Problem. Das ist in Wahrheit deine Doppelmoral", fügte er hinzu.

Damit bezog sich Cavusoglu auf die Zusammenarbeit des Natopartners USA mit den YPG-Milizen im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Die Türkei hat regelmäßig scharf kritisiert, dass die Kurdenmilizen von den USA Waffen und Training bekamen.

US-Präsident Donald Trump hatte in der Nacht die USA als möglichen Vermittler zwischen den Kampfgegnern ins Spiel gebracht. "Ich hoffe, dass wir vermitteln können", sagte Trump in Washington. Zugleich drohte er der Türkei erneut mit Sanktionen oder harten Strafmaßnahmen gegen die türkische Wirtschaft. Deutschland und fünf weitere EU-Länder hatten bei den Vereinten Nationen erneut ein Ende der Militäroffensive gefordert. Der sollen seit dem Beginn am Mittwoch nach türkischen Angaben vom Freitagmorgen 277 Kurdenkämpfer zum Opfer gefallen sein.

Auch ein erster türkischer Soldat sei bei den Gefechten getötet worden, meldete das Verteidigungsministerium in Ankara am Freitagmorgen auf Twitter. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, drei weitere Soldaten seien verletzt worden.

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