"Stigma ist verschwunden"

„Sieg für Putin“: So sieht das Ausland die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen

Alina Boger

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2.9.2024, 10:41 Uhr
Die AfD und das BSW steigen in Thüringen und Sachsen deutlich auf. Nicht nur Deutschland ist beunruhigt, auch die internationale Presse richtet alle Augen auf die Bundesrepublik.

© Hannes P Albert/dpa Die AfD und das BSW steigen in Thüringen und Sachsen deutlich auf. Nicht nur Deutschland ist beunruhigt, auch die internationale Presse richtet alle Augen auf die Bundesrepublik.

Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und die AfD weisen starke Ergebnisse nach den Landtagswahlen in den beiden deutschen Bundesländern auf. In Thüringen überholt die AfD die CDU und wird zur stärksten Partei. Vor solch einem Ausgang wurde in Deutschland die letzten Monate schon dringend gewarnt. Und obwohl es sich nicht um die Bundestagswahl handelt, sind nun alle Augen der Welt auf Deutschland gerichtet. Die Stimmen aus dem Ausland im Überblick:

"Politico" aus Belgien: Das Stigma ist verschwunden

"Das Stigma ist verschwunden. Deutschlands AfD erreicht Siege trotz Verurteilung, Warnungen des Verfassungsschutzes bezüglich Extremismus in ihren Reihen und großer Demonstrationen gegen die Ultrarechten auf der Straße. Die Thüringer waren von alldem unbeeindruckt; vielleicht hat es manche sogar ermutigt. (...)

Das Ergebnis ist ein weiterer Nagel im politischen Sarg von Kanzler Olaf Scholz.

(...) Zwei wichtige Fakten sollten den Schockeffekt des Sieges der AfD bei einer Landtagswahl mildern: Es ist nahezu sicher, dass sie das Bundesland nicht regieren wird, da es einen Boykott seitens der anderen Parteien gibt. Und Thüringen, das rund zwei Prozent der deutschen Bevölkerung repräsentiert, spricht nicht für das ganze Land. Es spricht jedoch für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe von Wählern aus der früheren DDR, die besonders aufnahmefähig sind für radikale, gegen die EU und den Westen gerichtete Botschaften."

"Wall Street Journal" aus den USA: Das politische Beben im Osten Deutschlands

"(...) Die Ergebnisse der Parlamentswahlen in Sachsen und Thüringen am Sonntag (...) sorgen für weitere Bestürzung auf einem Kontinent, der bereits durch den Niedergang der traditionellen Parteien und den Aufstieg der Aufständischen verunsichert ist. (...) Das größere Problem ist, was der gemeinsame Aufstieg der AfD und der BSW über den Kollaps der Regierungsparteien in Deutschland aussagt. (...)

Es bestätigt, was nationale Umfragen schon seit einem Jahr oder länger sagen: Die Wähler haben die Nase voll von Olaf Scholz und einer Koalition, die Migration nicht steuern kann und sich trotz des greifbaren und wachsenden wirtschaftlichen Schadens an Klimazielen festklammert.

Damit bleiben als einzige Mainstream-Alternative zu den Aufständischen nur noch die Christdemokraten (die CDU und Bayerns CSU). Man darf es den deutschen Wählern nicht vorwerfen, keine Geduld mehr mit ihren dysfunktionalen Regierungsparteien zu haben. Man sollte den Vorwurf den etablierten Politikern machen, die zu langsam sind und Nabelschau betreiben, während der Frust der Wähler steigt."

Britische Zeitung "The Guardian": Erfolg der AfD wirft beunruhigende Fragen auf

"Nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 prophezeite der ehemalige westdeutsche Bundeskanzler Willy Brandt, mit der Wiedervereinigung werde endlich "zusammenwachsen, was zusammengehört". 35 Jahre danach wirkt diese Vorstellung von einer natürlichen Heilung allzu optimistisch. Die historischen Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen vermitteln viel mehr das Bild eines Deutschlands, dessen östliche und westliche Regionen immer weiter auseinanderdriften.

Die rechtsextreme, einwanderungsfeindliche Alternative für Deutschland reitet auf einer populistischen Welle durch Europas größte Volkswirtschaft. Wenn morgen Bundestagswahlen wären, könnte die Partei Umfragen zufolge die zweitstärkste Fraktion im Bundestag stellen. Doch nur im Osten kann die AfD für sich in Anspruch nehmen, ein Mandat für die Bildung einer Landesregierung zu haben, wie es ihr thüringischer Vorsitzender Björn Höcke bereits getan hat, nachdem seine Partei zum ersten Mal überhaupt als Sieger aus einer Landtagswahl hervorgegangen war. (…)

Solange es den übrigen Parteien gelingt, den Cordon sanitaire um die Rechtsextremen aufrechtzuerhalten und sie daran zu hindern, eine absolute Mehrheit zu erlangen, werden ihre Machtambitionen wohl nur Wunschträume bleiben. Dennoch wirft die Etablierung der AfD als dominante regionale Kraft ernste und beunruhigende Fragen über die politische Identität Deutschlands und darüber auf, wie der Aufstieg solcher Kräfte in Zukunft eingedämmt werden kann."

Schweizer "Tages-Anzeiger": Ein rabenschwarzer Wahltag für die Kanzlerpartei

"Breite Mehrheiten in Ostdeutschland wollen die irreguläre Einwanderung nicht bremsen, sondern stoppen - und die Lieferung von Waffen an die Ukraine ebenfalls. Beide Themen erklären den Triumph der rechtsextremistischen AfD und der neuen populistischen Querfront-Gruppe von Sahra Wagenknecht. Zusammen sammeln sie in Thüringen fast die Hälfte aller Stimmen ein.

Beiden ist es gelungen, den Unmut über die Regierung in Berlin auf ihre Mühlen zu lenken - besser jedenfalls als der wichtigsten Oppositionspartei in Deutschland, der CDU. Dennoch gehört auch sie zu den Siegern. Anders als die AfD, die in ihrem Extremismus isoliert bleibt, ist die CDU die letzte Partei der breiten Mitte, um die herum sich in solch konservativen Landstrichen überhaupt noch Regierungen bilden können: In Sachsen behauptet sich Ministerpräsident Michael Kretschmer gegen die AfD, in Thüringen winkt Mario Voigt die Staatskanzlei - schwierige Koalitionsverhandlungen vorbehalten.

Für die SPD, die Kanzlerpartei, fällt der erste Wahltag im Osten rabenschwarz aus. Gehen die Sozialdemokraten in drei Wochen auch in Brandenburg unter und verliert ihr Ministerpräsident Dietmar Woidke dort seine Macht, wackelt auch Kanzler Olaf Scholz. In Hinblick auf die Bundestagswahlen in einem Jahr ist eine Revolte der Partei gegen ihn dann nicht mehr auszuschließen."

"Corriere della Sera" aus Italien: Deutschland ist nach Wahlen ein anderes Land

"Aus dem Wirbelsturm der beiden Landtagswahlen geht ein anderes Land hervor, ein anderes Deutschland. In Erfurt und Dresden vertraut eine Mehrheit der Bevölkerung ihre Enttäuschungen und Frustrationen zwei populistischen Parteien an, der nationalistischen und fremdenfeindlichen Ultra-Rechtspartei AfD sowie der neo-peronistischen Hybridpartei BSW, der politischen Kreatur von Sahra Wagenknecht, die prorussischen Pazifismus, wirtschaftlichen Statismus und harte Anti-Einwanderungspolitik miteinander verbindet.

Das Ergebnis bestätigt, dass 34 Jahre nach der Wiedervereinigung und Tausender Milliarden Euro, die in die ehemalige DDR investiert wurden, eine Mehrheit der Bevölkerung in den beiden Bundesländern keine Loyalitätsbindungen zu den traditionellen Parteien hat. Deren Entscheidungen akzeptieren sie nicht, deren Codes verstehen sie nicht, vielleicht teilen sie nicht einmal deren Konzept der Demokratie. Sie fühlen sich als Deutsche zweiter Klasse oder, schlimmer noch, als Ausländer in ihrer Heimat."

"Der Standard" aus Österreich: Deutschland erlebt gerade düstere Zeiten

"Lägen Thüringen und Sachsen im Westen oder wäre am Sonntag in einem westdeutschen Bundesland abgestimmt worden – das Ergebnis für die Ampel hätte wohl auch nicht sehr viel besser ausgesehen. Die Koalition in Berlin gibt ein trauriges Bild ab. Man ist fertig miteinander, zusammen hält das unattraktive Dreierbündnis nur noch die Angst vor den Wählerinnen und Wählern.

Und dann passierte kurz vor den Wahlen auch noch der schreckliche Anschlag von Solingen. Er legte nicht nur tatsächliche Versäumnisse offen, sondern auch Emotionen, die weder Ex-Kanzlerin Angela Merkel noch ihr Nachfolger Olaf Scholz begriffen haben: Die Menschen haben Angst. Gegen die Furcht kommen die Zahlen, Fakten und Beteuerungen des Kanzlers immer weniger an. Wie Scholz aus diesem Dilemma herauskommen will, wie er wieder Vertrauen gewinnen will, ist unklar. Deutschland erlebt gerade düstere Zeiten. Nach diesen beiden Wahlen wird der Weg nicht leichter."

Italienische "La Repubblica": Sieg für Putin

"Während sich der alte Kontinent auf dem schmalen Grat eines möglichen Kriegs und eines Infarkts der Demokratie bewegt, muss er sich zugleich mit einem inneren Feind auseinandersetzen. Die europäischen institutionellen Systeme sind infiltriert. In Italien, in Frankreich und nun immer unverhohlener in Deutschland. Der Keim des Putinismus wächst sogar in strukturierten Ländern mit einer soliden demokratischen Tradition. Was in den beiden deutschen Regionen geschehen ist, ist der jüngste Beweis.

Der Kreml hat jetzt seine Wortführer im Herzen Europas. Russlands Präsident hat einen außergewöhnlichen und beunruhigenden politischen Sieg errungen. Die "faschistische" rechte AfD und die nostalgische Linke sind zusammen mit anderen europäischen Formationen wie dem Rassemblement National in Frankreich oder der Lega in Italien seine Vorposten in der EU. Die Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Krieg in der Ukraine wird durch ein scheinbares Streben nach Frieden kaschiert."

"El Mundo" aus Spanien: Politischer Zusammenbruch in Deutschland

"Die Wahlergebnisse in den Bundesländern Thüringen und Sachsen - mit der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) auf dem ersten bzw. zweiten Platz - offenbaren ein Szenario des realen politischen Zusammenbruchs in dem Land, das traditionell an der Spitze der europäischen Wirtschaft steht. Die Zunahme extremistischer und einwanderungsfeindlicher Diskurse, die bereits bei den Europawahlen zu beobachten war, stellt eine ernsthafte Bedrohung für das europäische Projekt dar und macht es notwendig, die Debatte vernünftig und intelligent zu führen. (...)

Diese Wahlen fanden nur eine Woche nach dem Terroranschlag von Solingen statt, der den einwanderungsfeindlichen Diskurs anheizte. Aber die Umfragen hatten bereits seit Monaten einen Anstieg der Rechtsextremisten gezeigt. Das Debakel der Sozialdemokratie und die Kehrtwende der christdemokratischen CDU in der Einwanderungspolitik (...) bestätigen einen Paradigmenwechsel, der alle EU-Länder mehr oder weniger stark betrifft. Die Auseinandersetzung mit denjenigen, die die Zuwanderung instrumentalisieren, ohne dass man in vereinfachende Positionen verfällt, ist bereits eine der größten Herausforderungen für alle westlichen demokratischen Kräfte."