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Terrorexperte: Würzburger Messerstecher kann Islamist und psychisch krank sein

27.6.2021, 14:45 Uhr
Auch am Tag nach der Tat ist das das Kaufhaus, in dem der Somalier mehrere Menschen angriff, noch abgesperrt. Dahinter haben Trauernde Kerzen und Blumen abgelegt. 

© Karl-Josef Hildenbrand, dpa Auch am Tag nach der Tat ist das das Kaufhaus, in dem der Somalier mehrere Menschen angriff, noch abgesperrt. Dahinter haben Trauernde Kerzen und Blumen abgelegt. 

Herr Neumann, die Ermittlungen stehen zwar noch am Anfang, die Polizei wertet derzeit Hassbotschaften und Propagandamaterial aus, das bei dem Täter von Würzburg gefunden wurde. Aber: Wie wahrscheinlich ist es, dass es sich tatsächlich um einen islamistisch motivierten Anschlag handelt?

Peter Neumann: Das lässt sich noch schwer beurteilen. Nicht, weil wir nichts über die Hassbotschaften wissen, sondern weil wir nicht wissen, wie schwer die psychische Erkrankung des mutmaßlichen Täters war. Man wird sehen müssen, ob die Person nicht mehr zurechnungsfähig war oder es möglicherweise sogar die psychische Anfälligkeit selbst war, die die extremistische Orientierung noch verstärkt hat. Je nachdem, welcher Natur die Vorbelastung war, sind unterschiedliche Schlussfolgerungen möglich. Wir wissen, dass der Mann zwei Mal in Behandlung und offensichtlich ziemlich auffällig war. Wir kennen aber die genaue Diagnose nicht. Wenn er etwa schizophren wäre, wäre er unzurechnungsfähig gewesen – er wusste nicht, was er tat. Möglicherweise hat er aber auch eine Gewaltneigung, die nicht psychotisch ist.

Peter R. Neumann gilt als einer der profiliertesten Kenner der islamistischen Szene in Deutschland. Der gebürtige Würzburger lehrt am Londoner King’s College und hat mit Büchern wie "Die neuen Dschihadisten" mehrere Bestseller zu Islamismus und Terror geschrieben. 

Peter R. Neumann gilt als einer der profiliertesten Kenner der islamistischen Szene in Deutschland. Der gebürtige Würzburger lehrt am Londoner King’s College und hat mit Büchern wie "Die neuen Dschihadisten" mehrere Bestseller zu Islamismus und Terror geschrieben.  © Ina Fassbender, NN

Vieles, das zeichnet sich bereits jetzt ab, wird sich um die Frage drehen: Wann ist ein Terrorist ein Terrorist – und wann einfach ein Geisteskranker? Schließt sich das aus?

Nein, in manchen Fällen schließt sich das aus. In vielen aber nicht. Wenn jemand keine Kontrolle mehr über seine Handlungen hat, kann man sicher sagen, er ist kein Terrorist. In vielen Fällen ist das aber anders. Psychische Krankheiten und Ideologie können sich verstärken.

Die Vermischung von extremistischer Einstellung und psychischen Problemen sehen wir immer häufiger. Ich würde sagen, das ist der dominante Typ von Attentätern in Europa geworden. Es gibt Studien, die zeigen, dass eine Geschichte psychischer Anfälligkeiten bei Einzeltätern über 13 Mal so häufig ist wie bei gruppenbasierten Attentätern. Das war im Fall Hanau auch so. Da ist klar, dass der Mann Probleme gehabt hat – das bedeutet aber nicht, dass er nicht versteht, was er da tat. Wenn der mutmaßliche Täter von Würzburg in der Lage war zu verstehen, was er tat, finde ich es richtig, wenn man ihn als Terroristen bezeichnet.

Laut neuesten Meldungen hält es der Anwalt des Täters zumindest für möglich, dass sein Mandant akut suizidgefährdet ist. Wie passt das ins Bild?

Da müssen sie ehrlicherweise einen Psychologen fragen. Aber: Dass jemand, der jetzt wegen so einer Tat in Untersuchungshaft sitzt, suizidgefährdet ist, ist im Prinzip nichts Überraschendes.

Verschwörungstheorien sind gerade durch die Corona-Pandemie weit in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen. Spielen sie auch bei der Radikalisierung eine Rolle?

Natürlich, auf unterschiedliche Art und Weisen. Vieles von dem, was von Islamisten verbreitet wird, sind im Prinzip Verschwörungstheorien. Dort wird gesagt, der Westen führt Krieg gegen den Islam und die einzige Absicht sei es, die Heiligen Stätten zu "befreien". Da wird viel Unsinn erzählt, der für diese Leute aber glaubwürdig klingt. Solche Theorien bringen die sehr verwirrende und komplexe Realität auf einen sehr einfachen Nenner, sie liefern eine vermeintlich simple Erklärung. Vor allem aber benennen sie einen eindeutigen Schuldigen, gegen den vorgegangen werden muss. Auf islamistischer wie übrigens auch auf rechter Seite.

Hängen Islamisten tendenziell auch anderen Verschwörungstheorien an? Der Täter von Würzburg soll sich etwa vom russischen Präsidenten verfolgt gefühlt haben, sagen Menschen, die ihn kannten. Hier scheinen sich Verfolgungswahn und politisches Klima zu bedingen.

Solche Wahntheorien würden eher wieder auf eine Psychose hindeuten. Das ist im Prinzip dieselbe Situation wie im Fall Hanau. Dort war jemand, der geglaubt hat, dass die Geheimdienste dieser Welt sich gegen ihn verschworen haben. Das trägt dazu bei, dass der Attentäter von Würzburg möglicherweise nicht nur von der Notwendigkeit seiner Tat überzeugt war, sondern auch von der Dringlichkeit. Dass unbedingt etwas getan werden muss. Attentäter haben oft das Narrativ im Kopf, dass jetzt sofort eine Handlung notwendig ist. Dazu passen Wahnvorstellungen sehr gut. Sie signalisieren, ‚die‘ sind hinter Dir her, auf der Spur, der Feind kreist dich ein und du wirst überall beobachtet.

Provokative Frage: Hätte der Würzburger Täter, je nachdem, mit welchem Milieu und persönlichen Umfeld er Kontakt hat, auch Corona-Leugner werden können?

Klar, das könnte sein. Auch wenn es einige Fantasie erfordert, dass sich ein 24-Jähriger aus Somalia bei einer "Querdenken"-Demo einreiht. Was sie sagen, ist, dass es gewisse Radikalisierungsabläufe und Mechanismen gibt, die universell sind. Da ist schon etwas dran.

Wie steht es um die islamistische Szene in Deutschland? Sie ist, auch durch die Pandemie, in den vergangenen Monaten aus den Schlagzeilen verschwunden. Welche Gefahren gehen von ihr aktuell aus?

Die Szene ist deutlich weniger gefährlich als vor sechs oder sieben Jahren. Das ist auch der Grund, warum wir mehr Einzeltäter sehen. Es ist einfach nicht mehr möglich, Anschläge wie 2014 und 2015 in Paris durchzuführen. Nach monatelanger Vorbereitung und Kommunikation muss man davon ausgehen, dass die Sicherheitsbehörden dem auf die Spur kommen würden. Zusätzlich wird der Mythos des Einzeltäters aktiv propagiert, er wird – wenn sie sich Veröffentlichungen des IS ansehen – in den Vordergrund gestellt.

Das ist aber auch auf der rechtsextremistischen Seite der Fall. Auch hier haben die Täter häufig psychische Erkrankungen gehabt. Darauf müssen sich die Behörden aktiv und bewusst einstellen. Es ist wichtig, dass an Präventionsstellen, wo früher nur Pädagogen und Sozialarbeiter aktiv waren, vermehrt auch Psychologen eingesetzt werden. In der Polizei schaut man sich das Phänomen vermehrt von psychischer Seite an – aber noch nicht genug. Und auch Leute, die tatsächlich in der ambulanten Psychiatrie und mit Flüchtlingen arbeiten, sollten für das Thema sensibilisiert werden. Der Terrorist von heute ist ein anderer, als der, den wir vor zehn oder 15 Jahren vor Augen hatten.


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