Warum viele Ärzte das Gesundheitssystem hassen

20.05.2008, 00:00 Uhr
Warum viele Ärzte das Gesundheitssystem hassen

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Das Lachen ist Matern schon lange vergangen. Aus den Minibeträgen wurden schnell größere Summen, unter 1000 Mark im Quartal ist der Arzt selten weggekommen. «Ich habe immer gezahlt. Doch jetzt hat das eine Dimension erreicht, die neu ist«, meint er resignierend.

Jetzt? Der Doktor ist seit drei Jahren im Ruhestand und man sollte meinen, dass ihn die Niederungen seines Berufes nicht mehr interessieren müssen. Von wegen: Wenn Matern Pech hat, muss er demnächst noch aus dem Jahr 2002 eine Rückzahlung für seine Verordnungen leisten - sage und schreibe 42.000 Euro.

Alles verschlingendes Monster

Arzneimittel-Regress nennt sich dieses Verfahren im unschuldigen Bürokratendeutsch. Tatsächlich ist es das meistgehasste, aber längst nicht einzige Instrument eines Sozialstaats, im dem viele Mediziner inzwischen ein alles verschlingendes Monster sehen. Budgetierte Leistungen, überbordende Bürokratie, sinkende Honorare: Was auch immer sich die Politik an Rettungsmaßnahmen für die Krankenversicherung ausdenkt, es kommt bei den Ärzten als staatlich verordnete Gängelei an.

Rund 30 Formulare muss eine Praxis vorrätig halten, um den täglichen Betrieb gesetzeskonform abwickeln zu können: Leistungen müssen dokumentiert, Patienten in Chronikerprogramme eingeschrieben, Diagnosen anhand eines über 1000-Seiten starken Katalogs verschlüsselt werden. Viel Zeit für Gespräche mit den Patienten bleibt da nicht mehr - trotz einer 60-Stunden-Woche. Und das alles für wenig Geld. «Ich bekomme für ein Drittel meiner kassenärztlichen Leistungen überhaupt kein Honorar, weil das Geld im System nicht reicht«, klagt die Erlanger Hautärztin Astrid Schirner, «und dagegen darf ich nicht einmal streiken.«

Wahnsinn in der Praxis

«Vom Wahnsinn des Kassenarztdaseins« hat sie ein Flugblatt betitelt, mit dem sie ihre Patienten informiert. Und nirgendwo wird dieser Wahnsinn so deutlich wie bei den Regress-Zahlungen. «Das ist die Perversion in Dosen«, schimpft Susanne Kaiser, «wir Ärzte tragen das Krankheitsrisiko für unsere Patienten und nicht die Krankenkassen. Das ist so, als müssten die Kfz-Werkstätten für das Unfallrisiko der Autofahrer haften.«

Kaiser hat vor drei Jahren die Schwarzenbrucker Praxis von Gotthard Matern zusammen mit Materns Sohn Christian und dem Allgemeinmediziner Michael Herrmann übernommen. Und schon droht ihnen eine Regress-Forderung: Rund 83000 Euro soll das junge Ärzte-Trio aus 2005 zurückzahlen - zusätzlich zu den 42000 Euro, die Matern Senior noch am Hals hat. «Das bedroht unsere Existenz«, sagt Kaiser leise - und die Versorgung von 1600 vorwiegend schwer kranken Patienten.

Kontrolle muss sein

Kontrolle muss sein, das erkennen auch die meisten Mediziner an, sonst würden die Kosten für Arznei- und Heilmittel schnell ins Unendliche steigen. Doch dass sie mit dem System der Regress-Zahlungen in die Nähe von Straftätern gerückt werden, treibt den Akademikern die Zornesröte ins Gesicht. Denn wer in Regress genommen wird, der hat Geld bekommen, das ihm nicht zusteht. Der einstige Halbgott in Weiß ist zum Wirtschaftskriminellen geworden - so lautet die Botschaft hinter den Zahlungen, auch wenn sie nicht stimmt.

«Wir sollen Geld zurückzahlen, das wir nie in der Hand gehabt haben«, ärgert sich Susanne Kaiser. Tatsächlich haben die Doktores nur Arznei- und Heilmittel verschrieben - allerdings mehr als es die Vereinbarungen zwischen Kassen und Kassenärztlichen Vereinigungen erlauben. Das Geld haben Apotheker, Großhändler und Pharmaindustrie bekommen.

Mehr Medikamente verschrieben als das Budget hergab

So genannte Richtgrößen, in die Alter und Zahl der Patienten einfließen, aber auch, ob die Praxis auf dem Land oder in der Stadt liegt, bestimmen, wie viel ein Arzt verordnen darf. Im Fall der Schwarzenbrucker Praxis lag die Summe 2005 bei 171.000 Euro. Doch die drei Mediziner haben für 254.000 Euro Medikamente verschrieben - macht eine Regress-Forderung von fast 83.000 Euro. Dass in der Praxis besonders viele teuer zu versorgende, chronisch Kranke behandelt werden, spielt zunächst keine Rolle. Erst in einem Anhörungsverfahren vor einem Prüfgremium, das in Bayern mit vier Ärzten und drei Kassenmitarbeitern besetzt ist, können solche Praxisbesonderheiten berücksichtigt werden - oder auch nicht.

Und es sind längst nicht nur die Medikamenten-Ausgaben, bei denen der Gesetzgeber die Ärzte mit drakonischen Strafzahlungen zur Sparsamkeit erziehen will. «Bei den Verordnungen für Logo- und Ergotherapie liege ich 300 bis 400 Prozent über den Vorgaben, weil ich sehr viele Kinder behandle«, schimpft Bernhard Pleyer, Allgemeinarzt in Rückersdorf, «jetzt soll ich einen fast fünfstelligen Regress bezahlen.«

«Diabolische Systematik«

Noch sind die rund 2000 in Bayern anhängigen Regressverfahren, die in den meisten Fällen vor den Sozialgerichten enden werden, in der Schwebe. Alles in allem geht es um 50 Millionen Euro, rechnet Peter Einhell, Bereichsleiter Abrechnungen und Verordnungen bei der KVB, vor. Den Zorn und die Existenzangst der Mediziner angesichts dieser Summe kann er gut verstehen. «Dahinter steckt eine diabolische Systematik«, meint Einhell, «die Politik und die Kassen behaupten, dass es für alle Versicherten alle medizinischen Leistungen gibt. Und der Arzt muss ausbaden, dass das nicht stimmt - wir haben längst eine Zwei-Klassen-Medizin.«