Atomkraft

Widerstand gegen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke bröckelt

26.7.2022, 15:02 Uhr
Widerstand gegen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke bröckelt

© Markus Scholz/dpa

Jahrelang haben sich die Betreiber der deutschen Kernkraftwerke auf das Aus vorbereitet. Doch die erneute Drosselung der Gaslieferungen aus Russland stellt das nun infrage. Sollen und können die letzten drei deutschen Meiler doch noch weiterlaufen?

Deutschlands Nachbar Belgien hat den Ausstieg aus der Atomenergie wegen des russischen Kriegs in der Ukraine bereits um zehn Jahre verschoben. In der Bundesregierung zeigt sich vor allem die FDP offen dafür. Doch sogar die Grünen schließen einen vorübergehenden Weiterbetrieb inzwischen nicht mehr aus.

In einer wirklichen Notsituation, etwa wenn Krankenhäuser nicht mehr arbeiten könnten, müsse man darüber reden, sagte Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt bei "Anne Will". Das grün-geführte Wirtschaftsministerium unterzieht die Stromversorgung einem verschärften Stresstest. Dabei blickt es auch nach Frankreich, wo rund die Hälfte der Atomkraftwerke wegen Defekten oder Wartungen vom Netz war, so dass die Meiler weniger Strom als üblich lieferten. Aus Bayern kommt sogar der Vorschlag, bereits angeschaltete Atomkraftwerke wieder hochzufahren - denn das Bundesland steht besonders unter Druck.

Welche Kernkraftwerke gibt es in Deutschland noch?

Derzeit sind noch drei Atomkraftwerke am Netz: Emsland in Niedersachsen, Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg. Nach geltendem Recht müssen die drei Meiler spätestens am 31. Dezember 2022 abgeschaltet werden.

Zusammen erzeugten sie nach Angaben des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme in diesem Jahr rund 6,4 Prozent des Stroms in Deutschland (Stand 26. Juli, 10.04 Uhr). Erdgas trug im gleichen Zeitraum 10,1 Prozent zum Strommix bei, erneuerbare Energien hatten mit 51,6 Prozent den größten Anteil. Der in diesem Jahr durch Kernkraft erzeugte Strom könnte bei durchschnittlichem Verbrauch fast 4,5 Millionen Vier-Personen-Haushalte ein Jahr lang versorgen.

Was bringt es, Atomkraftwerke zu verlängern?

Erdgas, das knapp zu werden droht, wird tatsächlich vor allem zum Heizen eingesetzt. Es trägt aber auch rund 10 Prozent zur Stromproduktion in Deutschland bei. Wenn man länger auf Atomenergie setzen würde, könnte man also mehr Gas zum Heizen nutzen. Kerntechniker Thomas Walter Tromm vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) geht davon aus, dass der seit dem Jahreswechsel erzeugte Atomstrom genug Erdgas ersetzen kann, um pro Jahr etwa drei Millionen Einfamilienhäuser zu heizen. Umstritten ist allerdings, wie viel Strom die Atomkraftwerke mit ihren älteren Brennstäben überhaupt noch liefern könnten.

Ist eine Verlängerung technisch und rechtlich möglich?

Rein technisch ist das aus Expertensicht nur möglich, wenn man bis zum kommenden Sommer neue Brennelemente bekommt. Bis dahin könnte ein sogenannter Streckbetrieb gefahren werden. Dann würden die AKW für einige Monate mit gedrosselter Leistung betrieben, so dass die Brennstäbe länger halten. Mehr Strom bekommt man dadurch allerdings nicht, die Produktion wird nur über eine längere Zeit gestreckt.

Die Ministerien für Wirtschaft und für Umwelt gehen davon aus, dass neue Brennelemente frühestens in einem Jahr zur Verfügung stünden. Erst ab Herbst 2023 könne zusätzlicher Strom produziert werden, hieß es bereits im März in einem Prüfbericht der Ministerien. Außerdem sei fraglich, ob ausreichend Ersatzteile für den Betrieb und die Sicherheitssysteme vorhanden seien.

Um eine Verlängerung rechtlich zu ermöglichen, müsste der Bundestag das Atomgesetz ändern. Denn Ende des Jahres erlöschen alle Betriebsgenehmigungen für Kernkraftwerke in Deutschland. Nach Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann bei einer Laufzeitverlängerung eine neue Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich sein, auch das Risiko müsste neu abgewogen werden.

Wie steht es um die Sicherheit?

Die Sicherheit von Kernkraftwerken muss in Deutschland alle zehn Jahre gründlich überprüft werden. Den letzten Termin 2019 hat man allerdings ausfallen lassen, weil die Meiler ja ohnehin 2022 abgeschaltet werden sollten. "Bei einem Weiterbetrieb nach dem 1.1.2023 wäre also die letzte Sicherheitsüberprüfung 13 Jahre alt, eine neue wäre zwingend geboten", schreiben die Ministerien. So eine Prüfung könne Jahre dauern. Trotzdem seien die drei Anlagen sicherheitstechnisch auf einem hohen Niveau. Auch der Tüv Süd hat das Kraftwerk Isar 2 geprüft und keine Bedenken geäußert.

Findet man dafür genügend Arbeitskräfte?

Die Kraftwerksbetreiber haben sich auch personell auf das Aus Ende 2022 eingerichtet. Sollen die Meiler länger laufen, bräuchten sie zusätzliche, gut ausgebildete Mitarbeiter. Die Ministerien gehen davon aus, dass man diese nur mit finanziellen Anreizen bekäme. Andere Experten meinen dagegen, mit dem Personal, das für den Rückbau vorgesehen war, könne man die Anlagen wohl auch weiter betreiben. Die Betreiber haben noch ein anderes Problem: Sie haben für den Atomausstieg Schadenersatz bekommen. Es ist ungeklärt, ob sie den in vollem Umfang behalten dürften, wenn die Meiler noch monatelang weiterlaufen.

Welche Alternative gibt es und was bedeutet das für das Klima?

Statt Atomkraftwerke länger zu betreiben könnte man auch wieder stärker auf Kohle setzen. Atomkraft-Befürworter argumentieren deshalb unter anderem auch mit dem Klimaschutz: AKW sind über den gesamten Lebenszyklus betrachtet für deutlich weniger Treibhausgas-Ausstoß verantwortlich als beispielsweise Gas- oder Kohlekraftwerke. Das lässt allerdings außer acht, dass es noch immer keine Lösung gibt, den hoch radioaktiven und gefährlichen Atommüll in Deutschland über Hunderte oder Tausende Jahre sicher zu lagern.

Warum setzt man sich in Bayern für einen Weiterbetrieb ein?

Im Süden Deutschlands gibt es kaum Windparks - und ihr Bau kommt nur schleppend voran. Zugleich fehlen Hochspannungsleitungen, die Strom effizient aus dem Norden transportieren könnten. In Bayern gibt es zugleich auch nur wenige Kohlekraftwerke, die die Stromproduktion übernehmen könnten. Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) zufolge deckt allein das Atomkraftwerk Isar 2 schon 15 Prozent des bayerischen Strombedarfs.

Das Risiko von winterlichen Versorgungsengpässen sei in Bayern daher größer als in anderen Bundesländern, argumentiert der dortige Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann. Im Extremfall müsse man über einen Weiterbetrieb einzelner AKW nachdenken - wenn Stromversorgung und Netzstabilität in Gefahr seien, sagte er der "Augsburger Allgemeinen".

Aiwanger würde auch bereits abgeschaltete Meiler gern wieder hochfahren. Laut Wirtschaftsministerium müssten diese dann aber das komplette Genehmigungsverfahren mit zahlreichen Prüfungen durchlaufen und teils auch neu ausgestattet werden. "Ein Wiederanfahren der drei zum 31.12.2021 stillgelegten Kernkraftwerke kommt schon aufgrund der genehmigungsrechtlichen Situation (erloschene Betriebserlaubnis), die auch gesetzlich nicht rechtssicher geändert werden kann, nicht in Betracht", heißt es im Prüfbericht.