Nach 20 Jahren
Zurück aus Afghanistan: Ernüchternde Bilanz
3.7.2021, 11:24 UhrBesser konnte man das Selbstverständnis, mit dem die Bundeswehr nach Afghanistan zog, nicht formulieren: „Wave and smile - winkt und lächelt“, stand jahrelang auf einem Plakat am Ausgang des deutschen Feldlagers in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Wenn die deutschen Soldaten zu ihren Patrouillen in die Stadt ausrückten, bekamen sie mit dem Schild noch einmal so etwas wie die regierungsamtliche Kurzversion ihres Einsatzbefehls mit auf den Weg: Ihr seid nicht zum Kämpfen hier, seid nett und hilfsbereit.
Verlustreicher Einsatz
Jetzt haben sich die Deutschen endgültig aus Afghanistan verabschiedet, in der Nacht zum Mittwoch starteten die letzten deutschen Transportflugzeuge von der nordafghanischen Stadt Masar-i-Scharif Richtung Heimat. Doch zum Lächeln ist niemandem mehr zumute. Der längste, teuerste und verlustreichste Auslandseinsatz der Bundeswehr muss als gescheitert gelten.
Aber auch für die anderen großen internationalen und teils schon beendeten Einsätze der deutschen Armee in Bosnien, Kosovo und Mali fällt das Urteil nicht positiver aus. Das Konzept, einen zerfallenen Staat mit der Hilfe von Soldaten zu stabilisieren („nation building“) ist in keinem der Länder aufgegangen.
Bestenfalls gelang es, das Blutvergießen zu stoppen (was natürlich keinesfalls geringzuschätzen ist) und den Ländern eine mehr oder weniger lange Phase oberflächlicher Stabilität zu schenken. Doch der Aufbau solider staatlicher oder gar demokratischer Strukturen, die auch noch tragfähig sind, wenn die ausländischen Soldaten abgezogen sind, gelang in keinem der erwähnten Fälle.
AKK verspricht Aufarbeitung
Es reicht also nicht, wie es Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer jetzt getan hat, eine offene und ehrliche Bilanz des Afghanistan-Einsatzes anzukündigen. Vielmehr muss das gesamte Konzept des nation building auf den Prüfstand. Denn, und das ist vielleicht der verstörendste Befund in diesem Zusammenhang: Trotz des offensichtlichen Misserfolges in vielen Ländern hat die Weltgemeinschaft bislang keine alternativen Ideen entwickelt, wie sie gescheiterten Staaten anders helfen könnte als mit der Entsendung von Soldaten.
Daran, dass es sich bei Afghanistan um einen solchen „failed state“ handelte, konnte schon im Jahr 2001 kein Zweifel herrschen. Die Taliban hatten nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs ein religiös-fundamentalistisches Terrorregime errichtet, einen Steinzeitislam etabliert und Mädchen, Frauen sowie Andersgläubige entrechtet.
Attacke auf die USA
Das Leiden vieler Afghanen war, man muss es leider so hart sagen, der internationalen Staatengemeinschaft allerdings ziemlich egal – bis zum 11. September 2001. Als Terrorpate Osama bin Laden, der bei den Taliban in Afghanistan Unterschlupf gefunden hatte, mit gekaperten Flugzeugen die USA in New York und Washington attackiert, rückte das Land am Hindukusch plötzlich in den Fokus der Weltöffentlichkeit.
Noch am 12. September versprach der deutsche Kanzler Gerhard Schröder den USA „die uneingeschränkte - ich betone: die uneingeschränkte – Solidarität Deutschlands“. Damit war der Weg in das militärische Abenteuer der Deutschen am Hindukusch de facto geebnet, Anfang 2002 rückten die ersten deutschen Soldaten zusammen mit den USA und einer internationalen Kriegs-Allianz in Afghanistan ein.
Vermutlich passierte damals schon die erste große fehlerhafte Weichenstellung: Während die USA auf Rache aus waren und die Taliban aus dem Land vertreiben sowie Osama bin Laden zur Strecke bringen wollten, zogen die Deutschen mit einem weichgespülten Auftrag in den Einsatz: Viel war die Rede davon, den Afghanen mit neuen Brunnen und Schulen helfen und sogar einen demokratischen Musterstaat aufbauen zu wollen. Von Kampf oder gar Krieg sprach hingegen niemand, dafür fehlte gegenüber der deutschen Öffentlichkeit der politische Mut.
Ich durfte von 2002 bis 2005 drei Mal für diese Zeitung nach Afghanistan reisen. Und habe eine in meinen Augen sehr professionell agierende deutsche Armee erlebt – soweit mir die Bundeswehrführung Einblicke ermöglichte. Die Soldaten haben die oft zitierten Brunnen und (Mädchen-)Schulen tatsächlich in vielen Dörfern gebaut und damit durchaus einen Beitrag zur Entwicklung des Staates geleistet. Sie haben mit ihrer Anwesenheit tatsächlich Teile des Land ein paar Jahre lang stabilisiert, sie haben afghanische Soldaten ausgebildet.
59 Tote
Und sie haben gekämpft. Spätestens ab 2007 wurde aus der „Stabilisierungsmission“ ein Kampfeinsatz gegen die längst wieder erstarkten Taliban, auch wenn sich die deutsche Politik noch lange sträubte, von „Krieg“ zu sprechen. 59 deutsche Soldaten kamen in den knapp 20 Jahren des Einsatzes ums Leben, 35 von ihnen bei Gefechten oder Anschlägen. Von den Hunderttausenden toten Afghanen, die es in dieser Zeit gab, ganz zu schweigen.
Alles in allem zogen rund 160.000 Männer und Frauen der Bundeswehr an den Hindukusch. An ihnen liegt es trotz mancher Unzulänglichkeiten und Fehler sicher nicht, dass dieser Einsatz als gescheitert gilt. Aber die Frage, ob man die 12 Milliarden Euro, die alleine das deutsche militärische Engagement gekostet hat, nicht besser in zivile Hilfen investiert hätte, muss man trotzdem stellen. Auch und gerade mit Blick auf den immer gefährlicher werdenden Einsatz in Mali.
Taliban erstarken wieder
Letzten Meldungen zufolge stehen die Taliban bereits vor den Toren von Masar-i-Scharif. Manche Beobachter geben der afghanischen Regierung allenfalls noch ein halbes Jahr, bevor sie zusammenbricht. Mit anderen Worten: Wir sind fast genau dort wieder angekommen, wo die Mission im Jahr 2002 startete.
Wer in Zukunft derart ernüchternde Bilanzen bei ähnlichen Einsätzen verhindern will, wird sich einen komplett neuen Ansatz des internationalen Krisenmanagements überlegen müssen. Die Welt wird sich viel stärker als heute um internationale Klima- und Verteilungsgerechtigkeit kümmern müssen. Vor allem aber wird sie sich viel früher und ernsthafter um strauchelnde Staaten bemühen müssen – und nicht erst dann, wenn uns Terroranschläge oder Flüchtling vor unserer Haustür hochschrecken.
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