Junge Menschen haben heute weniger Sex als früher ihre Eltern
12.4.2021, 11:37 UhrHeutzutage haben junge Menschen deutlich weniger Sex als ihre Eltern vor 25 Jahren. Das hat eine US-Studie aus dem Jahr 2014 ergeben, die im Journal "Archives of Sexual Behaviour" veröffentlicht worden ist. Die Autorin Sophie Andresky wählt dazu in ihrem Buch "Echte Männer" drastische Worte: "Wir sind oversexed und underfucked. Noch nie wurde so viel geredet, geschrieben und gezeigt. Und lange nicht mehr haben so wenige Sex gehabt und genossen."
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Woher kommt diese Unlust und was können wir dagegen tun? Um diese Frage beantworten zu können, sollten wir vorher klären: Was verstehen wir eigentlich unter Sexualität?
Iris Osswald-Rinner ist promovierte Soziologin und hat ihre Doktorarbeit unter dem Titel "Oversexed and Underfucked" veröffentlicht. Sie beantwortet die Frage aus soziologischer Sicht: Sexualität sei eine Norm, die Menschen festlegen. Sie beinhaltet Rollenbilder. "Der Mensch ist ein bisschen dumm, was das angeht, denn er denkt, der aktuelle Stand sei immer die Wahrheit", stellt sie fest.
Rollenbilder fern der Realität
Es entstehen also Rollenbilder, die nur bedingt die Realität widerspiegeln: Frauen werden beispielsweise häufig als diejenigen gesehen, die weniger Lust auf Sex haben und Männer als die, die gar nicht genug davon bekommen können. "Studien zur Pornografie ergaben, dass Frauen und Männer beim Schauen gleichermaßen erregt waren. Nur die Teilnehmerinnen haben es im Nachhinein seltener zugegeben."
Sexualität ist schwer zu erfassen. Wie wichtig ist sie wirklich für uns – und gehört Sex tatsächlich zu den menschlichen Grundbedürfnissen?
Sabrina Kayser-Laubenstein betreibt eine Praxis für Psychotherapie in Nürnberg. Sie bietet auch Sexualtherapien an. Für sie ist Sexualität kein Grundbedürfnis des Menschen: "Es besteht keine Abhängigkeit. Ohne Sex hält man es deutlich länger aus, als ohne zu schlafen, zu essen oder zu trinken."
Osswald-Rinner weist auf den Unterschied zwischen Fortpflanzung und Lust hin. Demnach sei der Wunsch zur Reproduktion eher den Grundbedürfnissen zuzuordnen. Lust dagegen müsse erlernt werden und könne auch wieder verloren gehen.
Doch genau diese Lust braucht es, um befriedigende sexuelle Erfahrungen zu machen. Sie ist der Ausgangspunkt bei der Suche nach besserem Sex. Hier beginnt ein schmaler Grat: Denn um zu erkennen, was uns Lust bereitet, benötigen wir die Wiederholung.
Die aber kann ab einem gewissen Punkt dazu führen, dass das Erlebnis in das Gegenteil umschlägt: "Das Komplizierte an der Sexualität ist, dass es in dem Moment, in dem das Lernen nicht mehr anstrengend ist, gleich schnell auch wieder langweilig wird", so die Soziologin. Langfristig guten Sex zu haben ist also nicht selbstverständlich.
Dass Gelerntes in Gewohnheitswissen übergeht, ist erst einmal normal. Es verschafft uns ein solides Fundament bei der Bewältigung des Alltags. "Wenn wir uns die Schuhe anziehen, denken wir auch nicht darüber nach, wie wir es tun. So haben wir mehr Ressourcen für Kreativität und Innovationen", sagt Oswald-Rinner.
Wird allerdings auch in der Sexualität ausschließlich auf Gewohnheitswissen zurückgegriffen, wirkt das mit der Zeit unbefriedigend. Auf lange Sicht kann also Unlust entstehen. Dafür nennt die Soziologin vor allem einen Grund: Unser Alltag sei häufig so schon kompliziert genug. "Deswegen haben wir für kreative Sexualität nicht ausreichend Kapazitäten."
Also weichen wir leicht auf Abkürzungen aus. Das kann zum Beispiel Selbstbefriedigung sein, weil sie ohne viel Aufwand zu einer schnellen Belohnung führt. "Den Aufwand einer lustvollen Sexualität mit dem Partner sparen sich viele", so Iris Oswald-Rinner.
Unsere Umwelt trägt einen erheblichen Teil zur sexuellen Überforderung bei. Sexualität in der Werbung oder in Filmen ist längst nichts Außergewöhnliches mehr. Im Gegenteil: Ob wir wollen oder nicht, wir sind doch pausenlos von ihr umgeben. Und das hat Auswirkungen auf unsere "Ausstattung", wie Oswald-Rinner die Geschlechtsteile betitelt. Pausenlose Erregung, ohne aktiv zu werden, fördere die Überforderung und schmälere die Lust.
Lust als Spiel verstehen
Wobei die Soziologin betont, dass Unlust per se nichts Schlimmes sei. Wirkt sie allerdings frustrierend, sind Lösungen gefragt. Und die hat Osswald-Rinner ebenfalls parat: "Lust kann nur aufrechterhalten werden, wenn sie als Spiel verstanden wird."
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Dazu gehöre zum Beispiel der Rollenwechsel; dass es quasi einen Jäger und einen Gejagten gebe. Und dass das Spiel zweckfrei sei. Für wichtig erachtet sie zudem, dass Paare offen für die Vorschläge und Wünsche des Partners sein sollten – selbst wenn ihnen im ersten Moment manches absurd erscheint. Für diese Offenheit benötige man zwar Mut und Risikofreude, doch die würde belohnt, in dem der erregte Partner zum Teil des Spiels werde. So werde ganz nebenbei auch noch das eigene Gewohnheitswissen erweitert.
Gegen äußere Einflüsse wie Werbung oder Fernsehen kann man nur wenig tun. Die Soziologin erklärt, wie sie damit umgeht: "Ich ziehe mich vor Reizen zurück, weil ich manches einfach nicht schaffe." Das sei zum Beispiel ein Grund dafür, dass sie mittlerweile mit ihrer Familie in einem "Tinyhaus", also einem überschaubaren Minihaus, wohnt.
Wer sich sexuell frustriert fühlt, kann dagegen etwas tun. Offenheit, Spiel und Abgrenzung lauten die Schlagworte. Was dabei laut Osswald-Rinner nicht vergessen werden soll: "Sexualität ist ein Geschenk, das wir erst im Laufe unseres Lebens auspacken müssen, bevor wir es genießen dürfen."
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