Absurd schöne Scheinwelt

Sandstrand, Snobs und Tafelrunden: Paradiesische Erschöpfung unter der Sonne von Mauritius

Stefan Besner

Online-Redaktion

E-Mail zur Autorenseite

15.12.2023, 06:00 Uhr
Die Stunden und Tage verschwammen und gingen ineinander über wie die endlos heranrollenden sanften Wellen hinter dem Riff der Insel.

© Stefan Besner Die Stunden und Tage verschwammen und gingen ineinander über wie die endlos heranrollenden sanften Wellen hinter dem Riff der Insel.

"Das Grauen… Das Grauen…", murmelte ich, während draußen die mauritische Nacht an mir vorüberflog. Palmwedel ragten in die Straße und griffen nach dem kleinen Bus wie Hände exotischer Fabelwesen. Ich versuchte, die Vorstellung zu verdrängen, was mir nicht so recht gelingen wollte. Nach fast 60 Stunden ohne nennenswerten Schlaf neigen die Wände der Realität dazu, dünn zu werden und durchlässig. Die Monster, die in der trüben Finsternis meines Verstandes hausten, warfen sich gegen diese Barriere. Und langsam fürchtete ich, sie könnten durchbrechen.

Mit letzter Kraft

Vor einer halben Stunde war ich am Sir Seewoosagur Ramgoolam International Airport of Mauritius gelandet. Eine Annullierung und sechs Flugverspätungen lagen hinter mir. Air France und Turkish Airlines hatten mich mit beeindruckender Effizienz in eine groteske Bauchrednerpuppe verwandelt. Ich schlief nicht, ich war nicht wach, ich war weit über die Grenzen solcher Befindlichkeiten hinaus. "Wie lange noch?", hörte ich eine Stimme fragen, die meiner verdächtig ähnlich klang. "Noch eineinhalb Stunden", antwortete jemand. "Jesus Christus!", stieß ich aus. Mit letzter Kraft gelang es mir, eine anrollende Panikattacke zu parieren. Ich habe es bis hierher geschafft, dachte ich und hoffte mehr als ich tatsächlich daran glaubte: Diese eineinhalb Stunden werden dich jetzt auch nicht mehr umbringen.

Ein tragisches Missverständnis

Das Dinarobin Beachcomber Hotel liegt direkt am Fuße des Le Morne Brabant. Der 556 Meter hohe Berg im Südwesten von Mauritius blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Im 19. Jahrhundert flohen Sklaven in größerer Zahl auf den Gipfel. Als am ersten Februar 1835 eine Polizeiexpedition in Mauritius auf den Berg geschickt wurde, um das Ende der Sklaverei zu verkünden, deuteten zahlreiche Sklaven die Geste falsch und stürzten sich in den Tod. Seitdem wird der erste Februar in der kreolischen Gesellschaft als Feiertag für das Ende der Sklaverei begangen.

Alice im Wunderland

Ich versuchte, dieses tragische Missgeschick der Geschichte nicht als Omen für meinen eigenen Aufenthalt zu deuten. Den düsteren Le Morne Brabant im Rücken stieg ich aus dem Bus – und trat ein in ein hell erleuchtetes Paradies. Verschlungene Gänge mäanderten durch eine Landschaft aus türkisen Bassins, führten zu Bars, Cafés, Pools… Ich lauschte dem sachten Schwappen des Ozeans… Ich verlor mich in dem geschäftigen Treiben der Gäste und des emsig umherwuselnden Personals… Für einen Moment verstummten meine kreischenden Nerven. Ich war Alice. Ich war in den Kaninchenbau gefallen. Es war ein ungewöhnlich langer Fall gewesen, aber letzten Endes war ich im Wunderland gelandet; einem aberwitzigen, feudalen Atlantis.

Der Handtuch-Fauxpas

Eine freundlich lächelnde Beachcomber-Mitarbeiterin reichte mir und den ebenfalls eben angekommenen Journalisten aus meiner Gruppe feuchte, nach Rosenwasser duftende Handtücher. Dankbar nahm ich die Aufmerksamkeit entgegen und wischte mir erstmal den Schweiß von knapp drei Tagen aus dem Gesicht. Die Mitarbeiterin blickte zu Boden; etwas pikiert, so schien es. Ich schob es auf meinen angeschlagenen Geisteszustand – bis mir eine Kollegin zuraunte: "Die sind nicht fürs Gesicht. Die sind für die Hände. Man, warst du noch nie in einem Hotel?" Unauffällig sah ich mich um. Sie hatte recht. Niemand wischte sich das Gesicht ab… Oder sonstwas. Alle beschränkten sich auf zwei ganz spezielle Extremitäten. Ich setzte ein 1500-Watt-Grinsen auf und gab das Handtuch zurück. "Sehr angenehm", sagte ich. "Sehr erfrischend." Die Frau lächelte betreten. Aha, dachte ich. So sieht also mauritisches Mitleid aus.

Snobs und Tafelrunden

Wir wurden zu einem runden Tisch eskortiert, an dem problemlos König Arthus mit seiner Tafelrunde hätte Platz nehmen können. Vor jedem Stuhl standen zwei Weingläser und verschiedene Bestecke waren fein säuberlich neben zwei Tellern drapiert. Das Essen hielt, was der Tisch versprach. In Reih und Glied marschierten drei Kellner heran und servierten mehrere Platten mit einer Auswahl kunstvoll arrangierten Sushis. Für den Hauptgang konnte man wählen zwischen Roast Beef mit in Butter gedünstetem Pak Choy und Ingwer, Kartoffel-Chutney, abgerundet durch Flusskrebs-Rougail oder in der Pfanne herausgebratenem Fischfilet (Fang des Tages) in Masala-Sauce, Christophine-Cream und Hühnchen-Bouillon mit einer feinen Note Thymian. Als Nachspeise wurde Kakao-Mousse mit Kaffee-Herz und Espresso-Biskuit-Torte mit Mandelanstrich gereicht. Während des sich über knapp zwei Stunden hinziehenden Abendessens referierte der Hotel-Manager, ein mittelgroßer, untersetzter Mann mit etwas schütterem Haar, einer feisten, kleinen Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen und kleinen Augen, die immer latent amüsiert blitzten, über die Beachcomber-Kette. So setze man sich beispielsweise intensiv für Nachhaltigkeit ein. "Nichts wird weggeworfen. Speisen, die am Buffet übrigbleiben, spenden wir an Schulen." Selbst Essensreste auf Tellern würden gesammelt und an lokale Schweinebauern vergeben. Man versuche durch Recycling, Plastikmüll zu vermeiden, allerdings werde auch weiterhin viel verbrannt, gestand er auf Nachfrage ein. Die Wasserflaschen der Hotelkette seien dafür aus Pflanzenfasern hergestellt. "Man könnte diese Flaschen auf ein Feld legen und sie würden verrotten." In seine Erzählung flocht er geschickt nichtssagende Bonmots und harmlose Witze ein. Er fiel nie aus der Rolle. Sein Auftreten, seine gesamte Erscheinung, von den fein säuberlich manikürten, kleinen Händen bis hin zum gewichsten Schwarz seiner Schuhe, war eine perfekte Inszenierung. Als wäre Maughams Elliot Templeton zum Leben erwacht und säße nun in Fleisch und Blut vor mir. Vor dem Hintergrund des überwältigenden, ausgeklügelten Luxus der Beachcomber-Hotels wirkte dieser Mann wie die konzentrierte Essenz jenes prunkvollen Scheins. Ein Snob, zugegeben, aber in vollendeter Perfektion.

Angeschlagenes Ökosystem

Und genau darum geht es in den Beachcomber-Hotels: Das Eintauchen in eine ebenso absurde wie absurd schöne Scheinwelt. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, für alles ist gesorgt. Tauchen, Schnorcheln, Bananenboot fahren, Wasserski, alles direkt vom jeden Morgen durch Personal von Plastikmüll gereinigten Hotelstrand aus machbar. Wer Glück hat, sieht Wale, Schildkröten oder kann sogar mit Delphinen schwimmen. Im Vergleich zu anderen Orten auf der Welt ist das marine Ökosystem vor Mauritius noch vergleichsweise intakt. Doch auch hier ist der Klimawandel spürbar. Wer mit einem der Glasbodenboote fährt und einen Blick nach unten wirft, sieht jede Menge ausgebleichter Korallen-Skelette. "Fünfundzwanzig Prozent sind unwiederbringlich tot", erklärt Raphael Nicolas vom Shandrani-Resort. Dennoch gibt es Hoffnung. Laut einem Meeresbiologen, der eng mit der Hotelleitung zusammenarbeitet, regenerieren sich aktuell 75 Prozent.

Hummer und Marlincarpaccio

Die Stunden und Tage verschwammen und gingen ineinander über wie die endlos heranrollenden sanften Wellen hinter dem Riff der Insel. Ich schlenderte am Strand entlang, einen Longdrink in der Hand und war gerade auf dem Weg zu einem weiteren Drei-Gänge-Menü. Ich überlegte, ob ich heute den Hummer nehmen sollte. Als Vorspeise vielleicht Palmenherzsalat? Oder Marlincarpaccio? Und während ich diese ausnehmend elaborierten Abwägungen anstellte, wurde mir mit erschreckender Vehemenz bewusst, dass ich mich nicht nur an den Luxus gewöhnt hatte, es hatte lediglich einiger weniger Tage bedurft, da nahm ich ihn als selbstverständlich hin. Wie hatte das passieren können, fragte ich mich. Bin ich so abgestumpft? Wann wurde ich so abgehoben? Bin ich ein Atavist? Ich wandle hier auf einem der schönsten Strände des Planeten, sinniere über Hummer und Marlincarpaccio - und das kommt mir nicht viel anders vor, als würde ich mir in Erinnerung rufen, dass ich nachher noch Milch einkaufen müsste, weil die letzte im Kühlschrank sauer geworden ist. Verstört nahm ich erstmal einen großen Schluck von meinem Longdrink. Wie schnell man sich doch an alles gewöhnt, dachte ich und überlegte, wie es wohl Menschen ergehen musste, die von Klein auf nichts anderes kennen gelernt hatten als eine zur Selbstverständlichkeit degradierte Dekadenz.

Paradiesische Erschöpfung

Als der achte und letzte Tag anbrach, hatte ich vier Kilogramm zugenommen. Inzwischen ermüdeten mich die endlosen Mittag- und Abendessen. Das ganze Tamtam mit Kristallgläsern, Silberbesteck und angeregter Unterhaltung ermüdete mich. Ich wollte etwas von der Insel, dem richtigen Mauritius sehen. Ich sehnte mich danach, mit echten Menschen zu sprechen. Nicht diese Truman-Show-artigen Gestalten, die immer fein lächelten und stets zuvorkommend waren, weil sie ihre Familien ernähren müssen. So fantastisch all die Weinproben, Rumtastings, Yogastunden, Vorträge, Massagen, das Wasserkifahren, die Schnorcheltour und die Bankette mit den erlesensten Speisen, die man sich vorstellen kann, auch waren… Ich hatte das Umsorgt-werden satt. Ich war satt. Seit einer Woche war ich genau genommen nichts anderes mehr. Eine Woche Pauschalurlaub im Schlaraffenland, das genügte.

Sonnenuntergang und Abgesang

Ich bestellte ein Bier an der Bar. Dann machte ich mich alleine auf an den Strand. Ich setzte mich unter eine Palme. Gerade war ein großer Flughund in der Krone gelandet. Jetzt tat er sich an einer Kokosnuss gütlich. Ich ließ meinen Blick schweifen, über die schlaftrunken in der Dünung schaukelnden Boote, zur weißen Gischtlinie weiter draußen, wo das Korallenatoll die Brandung zähmt, sog den frischen Duft der See in mich auf… Die Sonne ging wie immer pünktlich und schnell unter - und dennoch einmal mehr anders. Denn es ist wahr, was sie hier sagen: Jeder Sonnenuntergang auf Mauritius ist unterschiedlich. Heute zerschmolz eine orangeglühende Scheibe auf einem azurblauen Spiegel. Ja, ich bin satt, dachte ich. Aber an diesem Anblick werde ich mich ganz sicher niemals sattsehen.

Keine Kommentare