Ämter mit Nachverfolgung überlastet? Jetzt spricht ein Experte
19.1.2021, 13:10 UhrDiesem Eindruck, den die Öffentlichkeit in den vergangenen Wochen gewinnen musste, tritt einer entgegen, der sich im Gesundheitswesen auskennt – und längst seinen Ruhestand genießen könnte. Aber als ihn vor ein paar Monaten ein Anruf mit der Bitte um Hilfe aus dem Rathaus erreichte, konnte Alfred Estelmann nicht Nein sagen.
Leitung des Nachverfolgungszentrums
Ursprünglich gelernter Bäcker, hat sich der Arzt und Diplom-Kaufmann, der bis 2017 das Nürnberger Klinikum als eines der größten im Land geleitet hatte, seine Bodenständigkeit und Umsicht bewahrt. Und die Hilfsbereitschaft: "Ich konnte meine früheren Kollegen und Mitarbeiter doch nicht sitzen lassen", meint der 68-Jährige.
Nach ersten, noch ganz ehrenamtlichen Einsätzen übernahm er inzwischen, mit ordentlicher Vergütung und (mehr als) 40-Stunden-Woche, die Leitung der größten Außenstelle des Gesundheitsamts, des Nachverfolgungszentrums in der Meistersingerhalle. Wo er ("das ist auch für mich was Neues") in einer Künstlergarderobe residiert.
Harsche Kritik an Verordnungs-Flut
Es gelinge sehr wohl, versichert er, alle betroffenen Personen, also Infizierte wie Kontaktpersonen, zu verständigen. Wenn auch, wie er einräumt, nicht immer so schnell und zügig, wie es wünschenswert wäre. Dass nicht alles rund läuft, liege aber nicht nur am Pandemie-Geschehen. Es sei zumindest teilweise auch selbst verschuldet: Seit dem vergangenen Frühjahr werden die örtlichen Behörden geradezu überflutet von Anordnungen, Verfügungen und Mitteilungen aus den Ministerien in Berlin und München und übergeordneten Dienststellen wie dem Robert-Koch-Institut: "Es waren bisher insgesamt mehr als 1400 Erlasse", sagt Estelmann.
Allein sie zur Kenntnis zu nehmen und dann umzusetzen, binde enorme Kräfte – wobei viele Papiere schon nach wenigen Stunden überholt sind. "Da ist es kein Wunder, dass gute Leute ausgebrannt und krankgeschrieben sind", hält er mit seiner Kritik nicht hinterm Berg: "Für mich haben die Regierungen die Bodenhaftung verloren." Jüngstes Beispiel: die im Dezember von der Landesregierung verordnete Einführung einer neuen Software. "Über die Feiertage und den Jahreswechsel gibt es bei den Software-Firmen, wenn überhaupt, nur eine eingeschränkte Rufbereitschaft – das ist der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für solche Aktionen. Eine solche Planung ist weltfremd."
Arbeitsplätze in Kojen
Doch an diesem Nachmittag läuft die Arbeit reibungslos. Freilich: Konzertliebhabern würde beim Gang durch die Räume das Herz bluten. Denn wo bewegende Musik erklingen sollte, im Kleinen Saal und in einem Teil des Foyers, erstrecken sich lange Reihen von Stell- und Trennwänden. 120 Kojen gibt es hier seit ein paar Wochen, in jeder ist ein Arbeitsplatz mit Computer und Telefon eingerichtet. Nicht alle sind gleichzeitig besetzt, vor allem nicht an den Wochenenden. Neben Kräften der Polizei und des THW, die in der Meistersingerhalle mit anpacken, sind in Langwasser weiter auch Bundeswehr-Soldaten im Einsatz.
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Dabei gilt es, hier und an den weiteren Standorten täglich rund 300 Neu-Infizierte anzurufen, über die Quarantäne-Bestimmungen, aber auch Hilfsmöglichkeiten zu informieren – und eingehend nach Kontaktpersonen zu befragen. Im Durchschnitt wird dafür eine Viertelstunde pro Gespräch veranschlagt. Damit nicht genug: Alle unter Quarantäne stehenden Personen sollen, ja müssen von da täglich angerufen werden. Das hat einen solchen Umfang angenommen, dass es, so Estelmann, "leider" nicht durchzuhalten ist, allen Betroffenen jeweils den Kontakt mit einer vertrauten Stimme zu bieten – also eine Art persönliche Zuständigkeit zu schaffen.
Eine Viertelstunde Kontakt
Positive Befunde werden von den Labors jeweils direkt an das Gesundheitsamt in der Burgstraße und über das interne System dann an die Nachverfolgungszentren gemeldet. "Im Durchschnitt gibt jeder Neu-Infizierte vier Menschen an, mit denen er oder sie in den zwei Tagen zuvor länger als eine Viertelstunde Kontakt ohne Abstand und Maske hatte. Die wiederum werden ebenfalls verständigt und müssen in Quarantäne."
Tatsächlich, räumte Estelmann ein, habe es eine Phase gegeben, in der die Neu-Infizierten ("Indexpersonen") erst nach drei Tagen erreicht wurden; doch das sei überstanden. Lässt sich aus den Gesprächen und der Erfassung der Fälle auch ableiten, ob tatsächlich beispielsweise – wie derzeit oft unterstellt – in öffentlichen Verkehrsmitteln oder in Büros erhöhte Gefahr droht? Nein, stellt Estelmann klar fest. Das geben die Befragungen nicht her. Nur ein Schwerpunkt ist hinlänglich bekannt, die tragische und traurige Konzentration in Heimen.
Sozialstruktur spielt eine Rolle
Allerdings sei zunehmend erkennbar, dass auch die Sozialstruktur eine Rolle spielt: "Wir haben überdurchschnittlich viele Infizierte in schwierigen Lebenslagen." Das habe sich auch indirekt bestätigt, als kürzlich eine Häufung von Fällen in einem großen Logistik-Verteilzentrum in der Region bekannt wurde. Dabei hatten sich die Mitarbeiter – viele eben in prekärer Beschäftigung – offenkundig im privaten Umfeld angesteckt, wo die Lebensverhältnisse von großer Enge geprägt sind, nicht nur in der eigenen Familie.
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Blick für soziale Faktoren
"Wir bräuchten eine stärker sozialräumliche Betrachtung des Infektionsgeschehens", meint Estelmann. Und nachdem in dem betroffenen Werk die Hygienevorkehrungen noch einmal nachgebessert wurden, liegt eine Schlussfolgerung für ihn auf der Hand: "Es ist nicht immer sinnvoll, zu Hause zu bleiben. In manchen Fällen sind die Leute am Arbeitsplatz sicherer und besser geschützt."