Der Befehl lautete: Bis zur letzten Patrone verteidigen
14.4.2015, 14:44 UhrAm Abend des 14. April ist das Ende des Zweiten Weltkrieges in Forchheim angekommen. Die amerikanischen Truppen stehen nördlich von Trailsdorf. Weitere Panzereinheiten rücken von der Fränkischen Schweiz aus heran. Der Wehrmachtsbefehl lautet, die Stadt bis zur letzten Patrone zu verteidigen. Dem müssen auch die drei Kompanien des Volkssturms in Forchheim gehorchen, so schwach sie auch sind. Die Brücken in Buckenhofen, über den Gründelbach und die Kanalbrücke in der Bamberger Straße werden gesprengt, Richtung Buckenhofen wird Sperrfeuer abgegeben. Gleichzeitig liegen über 1100 verwundete Soldaten in den Lazaretten der Stadt.
"Das Wahnsinnige der Situation und die Vision des Elends einer sinnlos in Trümmer gelegten Stadt ließen mir keine Ruhe", schreibt Karl Poiger in seinen Erinnerungen. Er fasst den Entschluss, sich über den Wehrmachtsbefehl hinwegzusetzen. Sein Ziel: Die Amerikaner überzeugen, dass es in Wahrheit keine nennenswerte Verteidigung Forchheims gibt, die Stadt also ohne Beschuss eingenommen werden kann. Die Mission ist lebensgefährlich. Entweder erschießen ihn die Deutschen als Kollaborateur oder die Amerikaner, weil sie ihm nicht glauben.
Abschied für immer?
Karl Poiger ist Amtsgerichtsdirektor von Forchheim, er und seine Frau Gertrud bewohnen mit den vier Kindern die oberste Etage des Amtsgerichts in der Kapellenstraße. Er führt das Leben eines angesehenen Bürgers und Familienvaters, als er sich vom Gefechtsstand aus Richtung Zuhause aufmacht, um Abschied zu nehmen.
"Wir saßen seit dem frühen Abend im Luftschutzkeller", erinnert sich Marlies Kohlmann, die älteste Tochter, damals 15. Nach einiger Zeit öffnet sich die Kellertüre und der Vater erscheint. "Er hat nicht viel mit uns geredet, nur mit der Mutter getuschelt. Wir haben gemerkt, es ist etwas Ernstes." Im Raum sind noch zwei Flüchtlingsfamilien und Bedienstete. Niemand darf etwas von der Mission erfahren. Heimlich steckt Gertrud Poiger ihrem Mann ein weißes Handtuch in die Uniform, als Friedenszeichen für die Amerikaner.
Während seine Kinder auf den Pritschen im Luftschutzkeller schlafen, radelt Karl Poiger Richtung Eggolsheim. An diesem Tag ist er vertretungsweise zum Führer der dritten Volkssturmkompagnie ernannt worden, hat damit auch militärisch Autorität erlangt. Ihm zur Seite: Oberfeldwebel Johann Kaul aus Kunreuth, den er in sein Vorhaben eingeweiht hat. Bei Hirschaid treffen sie auf ein amerikanisches Stabsquartier. Poiger kann auf Englisch den kommandierenden Offizier überzeugen, Forchheim kampflos einzunehmen. Die Waffen am Nordausgang der Stadt hatte Kaul zuvor unschädlich gemacht.
"Wir sind aufgewacht und da standen zwei baumlange amerikanische Soldaten im Keller", erinnert sich Marlies Kohlmann, inzwischen 86, an das Kriegsende und die Angst, die sie hatte. Vom Vater fehlt jede Spur. Karl Poiger ist noch auf der Flucht. In Forchheim aber rücken am Sonntag, 15. April, im Morgengrauen die ersten Amerikaner mit einer Diesellok von Bamberg aus an. Gegen sieben Uhr werden US-Soldaten in der Kanal- und Birkenfelderstraße gesichtet. Um 11 Uhr rollen die amerikanischen Panzer vor das Rathaus. Um 14 Uhr übergibt Stadtkämmerer Schwarz, der den geflohenen Bürgermeister Förtsch ersetzen muss, der US-Armee das Kommando über Forchheim, das sich kampflos ergeben hat. Poigers Mission ist erfüllt. Er selbst aber noch nicht außer Gefahr.
Nach seiner Unterredung mit dem amerikanischen Offizier ist er als Kriegsgefangener nach Amlingstadt gebracht worden, flieht und schlägt sich nachts Richtung Forchheim durch. Dienstagvormittag ist er wieder daheim: "Ich sehe ihn im Garten des Amtsgerichts vor mir stehen. Wir haben ihn umringt und uns so sehr gefreut", erzählt Marlies Kohlmann. Statt der Uniform trägt ihr Vater einen schwarzen Anzug, den er sich von einem befreundeten Bauern aus Bammersdorf geborgt hatte. "Ärmel und Hosenbeine waren zu kurz."
Für die Familie beginnt eine turbulente, sorgenvolle Zeit, erinnert sich Marlies Kohlmann. Auch wenn sich die Verdienste Karl Poigers um die Rettung der Stadt schnell herumsprechen, er ist seit 1933 NSDAP-Mitglied und in der SA. Nur mit Schwierigkeiten kommt er durch die Entnazifizierung. Marlies Kohlmann hat mehrere Empfehlungsschreiben von Bürgern für ihren Vater aufgehoben. Aus dem Amtsgericht müssen sie ausziehen, bekommen zwar schnell eine neue Wohnung am Streckerplatz. Der Richterposten ist aber erst einmal weg. Bis er entlastet ist, hält Karl Poiger seine Familie mit Übersetzungen und Sprachunterricht über Wasser. Später wird er wieder als Richter (zuletzt in Bamberg) eingesetzt.
Noch während des Krieges hat Karl Poiger erkannt, wie wichtig Fremdsprachen sind. Wenn er sonntagmorgens im Bett englische Vokabeln lernt, fragen ihn die Kinder verwundert warum. Er antwortet: "Englisch ist wichtig, das braucht man nach dem Krieg." Französisch hat er während seiner langen Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg gelernt.
Wie geht es nun weiter?
Das Geld ist erst einmal knapp. Die zwei älteren Töchter Marlies und Gerda werden auf die Lehrerbildungsanstalt geschickt, auch die jüngste Tochter Margarete unterrichtet später, nur der Sohn Wolfgang kann studieren und arbeitet später als Richter wie der Vater. 1955 bereits stirbt Karl Poiger mit 60 Jahren an einem Herzinfarkt, Jahre später benennt die Stadt eine Straße in der Nähe des Kellerwaldes nach ihm. Zu den Jahrestagen wird immer wieder in der Zeitung über seine historische Tat berichtet.
Woher er damals den Mut genommen hat? Für Marlies Kohlmann gibt ein von ihm selbst verfasstes Nachwort auf einen Artikel von 1951 die Antwort: "Dies ist der Bericht eines Mannes, den sein Gewissen angetrieben hat so zu handeln, wie er gehandelt hat. Ebenso wie es Situationen gibt, in denen ein Richter gegen das geschriebene Gesetz entscheiden muss, gibt es Situationen, in denen ein Soldat gegen den Befehl handeln muss. Über allen Gesetzen und Befehlen steht das Gesetz und der Befehl der Menschlichkeit. Wann ein solcher Befehl gegeben und zu befolgen ist, darüber kann in der Stunde höchster Not, wenn einer ganz allein auch sich gestellt ist, nur das Gewissen entscheiden."
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