Die Waggons rollten in Richtung Freiheit

01.10.2009, 00:00 Uhr
Die Waggons rollten in Richtung Freiheit

© Markus Hörath

Alleine, zu zweit oder mit der ganzen Familie: Tage-, mitunter wochenlang hatten rund 5500 DDR-Bürger in der Prager Botschaft der Bundesrepublik ausgeharrt, 800 weitere in Warschau. Sie alle wollten nur eins - raus aus dem Staat, der sie ein Leben lang eingemauert hatte.

Am 30. September 1989 geschah das Unglaubliche: Die DDR stimmte der Ausreise der Flüchtlinge zu. Die Bundesrepublik organisierte Züge, und im Landkreis Forchheim ging ein Alarm des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) ein. Es sollte der größte Einsatz des Hilfswerkes seit dem Zweiten Weltkrieg werden. Die örtlichen Einsatzkräfte sollten 5000 Lunch-Pakete nach Hof bringen, um die hungrigen Ankömmlinge zu versorgen.

Alle Helfer alarmiert

«Wir mussten sofort alle Helfer alarmieren und packten Pakete, was das Zeug hielt», sagt Gerhard Käding, damals ehrenamtlicher BRK-Kreisbereitschaftsleiter. Sie schmierten Brote, nach Feierabend, am Wochenende, Senioren und die mittlerweile verstorbene Sanitäterin Johanna Arneth schon ab 7 Uhr morgens.

Joghurt, Wurst, Käse, Obst, aber auch Baby-Hygieneartikel, Zigaretten und Tee: «Alles wurde en masse in die Züge gebracht.» Käding fuhr mit 15 Helfern aus dem Landkreis und einem Großraum-Krankenwagen nach Hof. Er wäre gern länger geblieben, musste aber als Kreisbereitschaftsleiter wieder nach Forchheim zurück.

Markus Oppel war einer der Glücklichen, die bei dieser, wie er es nennt, «patriotischen Aktion» bis zum Ende dabei sein durften. Noch heute wird er wehmütig, wenn er zurückdenkt: «Als ich neulich eine Dokumentation über den Mauerfall sah, bekam ich feuchte Augen.»

Der Hofer Bahnhof, erinnert sich Oppel, sei damals im Belagerungszustand gewesen: die Bundeswehr, Feldküchen, der Bundesgrenzschutz, Bahnmitarbeiter - alle waren sie da. Die Ankunft des Zuges verzögerte sich immer wieder, die Stimmung war gespannt. An der DDR-Grenze wurden die Waggons verriegelt, und an den Ost-Bahnhöfen standen die Militärs Spalier. «Als die Flüchtlinge das sahen, dachten sie, jetzt ist der Ofen aus.» Doch die Soldaten sollten nur gewährleisten, dass keine weiteren DDR-Bürger auf die Züge aufspringen.

Die Ankunft wird Oppel nie vergessen: «Das war ein Riesengegröhle, ein Hurra, einfach unbeschreibliche Szenen.» Die Stimmung unter den DDR-Bürgern war «gelöst», die auf Westseite «eher erregt».

«Eiskalter Tag»

BRK-Helfer kümmerten sich um die Flüchtlinge, darunter auch der damalige Notarzt des Kreisverbandes Reinhard Letsch, der heute noch eine Praxis in Forchheim hat. «Es war eiskalt an dem Tag», erinnert sich Letsch, «die Leute haben sehr gefroren, es gab auch keine Heizung im Zug.» Es wurden Decken und heißer Tee verteilt.

Im Vorfeld hatte der Mediziner Rezepte geschrieben und «sämtliche Apotheken in Forchheim mobil gemacht». Alle hätten irgendwie geholfen und Medikamente bereitgestellt. Einige Fälle von Bronchitis und Lungenentzündung stellte Letsch fest und verteilte Antibiotika und Hustensaft, vor allem an Kinder.

462 freiwillige Stunden

Nach dem Zwischenstopp in Hof fuhren die Züge weiter in Richtung Hannover, wo die Flüchtlinge in Übergangslagern unterkamen. Letsch begleitete sie, lief die Abteile fünf mal ab, doch echte Krankenhausfälle habe es nicht gegeben. Dann die Ankunft: «Das war ein Riesen-Volksfest.»

Auch Markus Oppel fuhr mit, er verteilte Decken, Getränke, beaufsichtigte Koffer. 462 Stunden lang fehlte er auf Arbeit. «Mein Chef hat getobt, als er von dem Einsatz erfuhr.» Nur dank der Überzeugungskraft des damaligen BRK-Kreisgeschäftsführers, Jürgen Hemme, entging Oppel einer dienstlichen Abmahnung. Stattdessen hält er jetzt stolz eine Urkunde in den Händen, darauf steht: Zum Dank an den ehrenamtlichen Einsatz im Zusammenhang mit der Übersiedlung von tausenden DDR-Bürgern.