In Remarques Roman „Liebe deinen Nächsten“ spielt Andrea Barz’ Vater eine Hauptrolle
23.3.2015, 13:00 Uhr„Kern unterschrieb seine zweite Ausweisung aus Österreich. Sie war lebenslänglich. Er fühlte nichts mehr dabei.“
Ludwig Kern ist im Buch ein jüdischer Student, staatenlos und ohne Pass. Seine Heimat war Deutschland, seine Flucht vor der NS-Diktatur führt ihn zunächst nach Wien. Dort wird er verhaftet . . . Als Erich Maria Remarque sich 1938 an die Niederschrift seines Romans „Liebe deinen Nächsten“ setzte, kannte er seine Romanfigur Kern tatsächlich persönlich, er hatte ihm sogar kurz zuvor für einige Tage Unterschlupf gewährt. Der Autor, der durch seinen Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ weltweit bekannt geworden war, machte das authentische Schicksal Kerns zu einem wesentlichen Handlungsstrang seines Buches.
„Dieser Ludwig Kern war mein Vater“, sagt Andrea Barz. Einen Buchstaben im Nachnamen habe der Schriftsteller verändert: „Er hieß in Wahrheit Korn.“ Die 64-Jährige spricht zum ersten Mal über dieses Kapitel ihrer Familiengeschichte. Dafür gibt es einen Grund: „Durch die Begegnung mit den Flüchtlingen, die hier in Langenzenn untergebracht worden sind, ist das alles bei mir wieder wachgerufen worden.“ Wie sehr sich die Schicksale von Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, heute wie damals gleichen, hat sie erschüttert.
Remarques hat seinen Roman unter ein Motto gestellt, und das heißt: „Man braucht ein starkes Herz, um ohne Wurzeln zu leben.“ Dem Vater von Andrea Barz waren diese Wurzeln von den NS-Schergen genommen worden. Seine Flucht von Dresden aus stand immer wieder kurz vor dem Scheitern und brachte ihn an die Grenzen des Erträglichen. Für wenige Tage konnte ihn Erich Maria Remarque aufnehmen, der wegen der Hetze der NSDAP in die Schweiz emigriert war.
„Sie kannten sich aus Deutschland“, weiß Andrea Barz, „und mein Vater, der ja keinerlei Papiere mehr besaß, suchte auf seiner Irrfahrt durch Europa Remarque auf, der am Ostufer des Lago Maggiore lebte.“ Der Autor ließ sich alle Details der Flucht berichten – und begann 1938 mit der Niederschrift seines Buches, einem Appell gegen Bürokratismus und Herzlosigkeit gegenüber Menschen, die schuldlos verfolgt werden. In Deutschland erschien der Roman erst 1953, zwölf Jahre zuvor war er bereits in Hollywood verfilmt worden.
Andrea Barz erfuhr als junges Mädchen von diesen Zusammenhängen. „Ich glaube, ich war 13 Jahre alt, als meine Mutter mir zum ersten Mal davon erzählte.“ Mit ihrem Vater hat sie nie darüber gesprochen. „Er redete nicht über diese Zeit.“
Heute sagt sie: „Als Vater war er mir nicht richtig präsent, inzwischen habe ich das Gefühl, dass ich ihm nicht wirklich gerecht werden konnte, weil ich seine Geschichte zu wenig kannte und ihn deshalb oft nicht verstand.“
Er überlebte – als Einziger aus seiner Familie. Doch die Umstände der Flucht prägten ihn für immer. „Niemals konnte mein Vater nachts schlafen, ohne dass das Licht brannte“, erinnert sich die Tochter. „Und er wurde nie wieder richtig sesshaft.“ Nach dem Krieg leitete er zunächst in Stuttgart eine Kabarettbühne, wo Künstler wie Werner Finck auftraten. Sein Lebensende verbrachte Korn auf Mallorca. „Er war dort Präsident des Malteserordens, eine Aufgabe, die ihm viel bedeutete.“ Wichtig war ihm auch die Familie: „Zu seinen Geburtstagen lud er uns ein, weil er alle um sich haben wollte – ganz gleich, wo er gerade auf der Welt war. Das konnte Locarno sein. Oder Budapest.“
„Damit überlebst du“
Zwei Erinnerungsstücke sind Andrea Barz geblieben. „Nach einem kleinen Foto, das einzige, das er retten konnte, hat mein Vater später seine Mutter malen lassen.“ Dieses Bild ihrer Großmutter besitzt sie und einen Davidstern, den ihr Vater für sie persönlich arbeiten ließ: „Er hat zu mir gesagt, damit überlebst du, wo immer du bist. Trage ihn immer bei dir. Aber niemals offen.“
Im Langenzenner Bürgerhaus machte nun die Projektgruppe Leselust unter dem Titel „Kern-Stück“ mit Remarques Roman bekannt. Mit verteilten Rollen lasen Sandra Schöffel, Ulrika Hirt-Müller, Michaela Auer, Lilo Schuh und Karel Kaiser, der auch moderierte, aus dem Buch.
In der anschließenden Diskussion kam die Sprachlosigkeit zu Wort, die viele Zeitzeugen der Jahre vor und während des Zweiten Weltkrieges kennzeichnete. „Unsere Eltern haben auch nie über ihre Vergangenheit gesprochen“, hieß es von Besuchern des Abends, die bedauerten, dass „Liebe deinen Nächsten“ derzeit nur antiquarisch zu bekommen ist.
Andrea Barz erinnerte zum Abschluss der Lesung daran, was sie bewog, über ihren Vater zu berichten: „Die Flüchtlinge, die heute zu uns kommen, erleben Ähnliches. Es nutzt nichts, wenn wir jetzt tausend Mahnmale bauen. Wir müssen helfen.“
Keine Kommentare
Um selbst einen Kommentar abgeben zu können, müssen Sie sich einloggen oder sich vorher registrieren.
0/1000 Zeichen