Wie die Fürther das „Public Listening“ erfanden
11.5.2013, 10:00 UhrAls sich am 13. Juni 1926 in Frankfurt die Spielvereinigung Fürth und Hertha BSC Berlin im Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft gegenüberstanden, entschlossen sich die zwei Jahre zuvor entstandenen deutschen Rundfunkanstalten sehr kurzfristig, dieses Ereignis zu übertragen. Das war keineswegs selbstverständlich, denn die Pioniere des Rundfunks sahen dessen Aufgabe in der „drahtlosen Belehrung“ und einer gehobenen Unterhaltung, wozu sie den Sport nicht zählten.
Doch jetzt errichtete die „Süddeutsche Rundfunk AG“ auf dem Stadiondach in Frankfurt unter einer Zeltplane eine provisorische Kabine für ihren Reporter Paul Laven, und die Beamten der Reichspost stellten mit ihrem neu geschaffenen Rundfunkkabelnetz die Verbindungen zu 14 Sendeanstalten her. Laven ist noch Tage später von dem Augenblick ergriffen, als er zu Beginn der Übertragung die Liste der Sender verliest, die auch „Namen im fernsten Reich aufweist“.
Chance erkannt
So unterbrach der Vorläufer des Bayerischen Rundfunks, die „Deutsche Stunde in Bayern“, das eigentlich geplante Programm für zwei Stunden und verschob die vorgesehene „Lesestunde“ und den Vortrag „Die Seele der Tiere“ auf einen späteren Zeitpunkt.
Außer einigen wohlhabenderen Bürgern und etlichen Radiobastlern besaßen damals die allerwenigsten Fürther eigene Empfangsgeräte. Um das brennend erwartete Ergebnis aus Frankfurt schnellstmöglich zu erfahren, hätten sie zur Geschäftsstelle des Fränkischen Kuriers in der Schwabacher Straße kommen müssen, wo es nach Spielschluss angeschlagen wurde, wie das Blatt angekündigt hatte. Diese Chance erfassten Fürther Gastwirte und ließen sich von Firmen, die sich auf die Vermietung von Lautsprechern für Vorträge, Konzerte und Kundgebungen spezialisiert hatten, entsprechende Anlagen installieren. Gegen Entgelt luden sie die Bevölkerung zur Übertragung des Fußballspiels ein.
In Zeitungsanzeigen warben dafür unter anderem der Geismannsaal, das Schwarze Kreuz, der Gasthof zu den drei Königen und der Kristall-Palast. Für den am Ludwigskanal gelegenen Sportplatz des Fußballclubs Fürth, der in einer niedrigeren Klasse ein Pflichtspiel absolvieren musste, das nicht mehr verschoben werden konnte, stellte die „Deutsche Stunde Bayern“ sogar selbst einen Lautsprecher auf.
„Schöne Ansprache“
Die Übertragung wurde nicht nur ein finanzieller Erfolg für die Wirte, sondern begeisterte auch die vielen Gäste. Schon wegen der „klaren und schönen Ansprache sowie der humor- und temperamentvollen Art und Weise des Herrn Ansagers“, wie ein dankbarer Zuhörer an das Fürther Tagblatt schrieb, vor allem aber, weil die Spielvereinigung 4:1 gewann. Dass sie zugleich die Geburtsstunde des „Public Listening“ im deutschen Fußball miterlebt hatten und dieses Ereignis ausgerechnet in ihrer Heimatstadt über die Bühne gegangen war, machten sich wohl die wenigsten bewusst. Und natürlich sprach niemand von „Public Listening“, wie wir heutzutage das gemeinsame Verfolgen eines Sportereignisses im Radio wohl nennen würden — quasi als akustische Vorform des Public Viewing, wie es 80 Jahre danach bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 die Massen vor Großleinwänden versammeln sollte.
Schon ein Jahr später wiederholte sich das Spektakel übrigens in Nürnberg, als der 1. FCN in Berlin im Endspiel stand und einige Tausend seiner Anhänger zur öffentlichen Übertragung in das Herkules-Velodrom – dort steht heute das Schauspielhaus – strömten. Im Dritten Reich verkam das gemeinsame Radiohören unter dem Motto „Ganz Deutschland hört den Führer“ zur politischen Massenindoktrination mit Hitler-Reden.
Dass es nach dem Zweiten Weltkrieg im Fußball noch einmal aufblühte, und zwar als ein früher Vorbote des privaten Rundfunks, hatte wiederum mit Fürth, seinen Wirtsleuten und der Spielvereinigung zu tun, die 1948 aus der Fußball-Oberliga Süd, der damals obersten Spielklasse in der amerikanischen Besatzungszone, abgestiegen war.
Aber schon im Frühsommer 1949 kämpfte man als Zweiter der Fußball-Bayernliga gegen Spitzenmannschaften aus Hessen, Württemberg und Baden um den Wiederaufstieg. Die ganze Stadt befand sich im „Aufstiegsfieber“, wie die Fürther Nachrichten schrieben. Doch die Aufstiegsspiele wurden vom Bayerischen Rundfunk, dem alleinigen deutschsprachigen Sender im Freistaat, gar nicht übertragen. Der Sport hatte im einzigen dort vorhandenen Programmkanal viel weniger Raum als heute, und die sehr aufwändigen Live-Übertragungen von Sportereignissen waren Wettkämpfen vorbehalten, bei denen es zumindest um die deutsche Meisterschaft gehen musste.
In dieser Situation ergriffen die beiden Brüder Konrad und Georg Wagner, Juniorchefs des renommierten Mode- und Bekleidungshauses Hofmann&Wagner, die Initiative und stellten in Kooperation mit einigen anderen Geschäftsleuten und Gastwirten über angemietete Postkabel eine Live-Reportage auf die Beine. Aus Kostengründen dürfte sie an die hohe Übertragungsqualität des öffentlichen Rundfunks nicht herangereicht haben – und auch die Reporterfunktion übernahmen die beiden Brüder selbst.
Die Materie kannten sie, hatte doch Georg nach der Entlassung aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft noch selbst als Verteidiger in der ersten Mannschaft der Spielvereinigung gestanden. Am 22. Mai 1949 ließen die beiden Amateurreporter Tausende von Fußballfans im brechend vollen Geismannsaal, im Schwarzen Kreuz, in anderen Fürther Gasthäusern und in den angrenzenden Straßen ein flottes Spiel und fünf Tore ihres Lieblingsakteurs Horst Schade live aus Kassel miterleben.
Von einem „absoluten Novum in der Geschichte des deutschen Fußballsports“ schrieb damals die Mittelbayerische Zeitung. Dabei bezog sie sich allerdings auf eine fast deckungsgleiche, zeitlich parallel verlaufene Aktion des SSV Jahn Regensburg, der als Meister der Fußball-Bayernliga in einer zweiten Gruppe ebenfalls um den Aufstieg zur Oberliga kämpfte und sein erstes Spiel auswärts in Stuttgart austragen musste.
Altes Vereinsheft half
Hier war es der Verein selbst, der die Begegnung über eine Postleitung ins heimische Jahn-Stadion übertragen ließ, wo 2000 Menschen zusammengekommen waren, die jeweils 50 Pfennig Eintritt bezahlt hatten. Die Frage, ob die Idee in Regensburg oder in Fürth geboren worden ist oder aber unabhängig voneinander in beiden Städten, wird man angesichts des notwendigen Planungs- und Organisationsvorlaufs nach so langer Zeit wohl nie mehr beantworten können.
Rein technisch ist die Fürther Aktion angesichts der gleichzeitigen Übertragung zu verschiedenen Empfangsstellen im Stadtgebiet zweifellos komplizierter gewesen, auch wenn es Unterlagen darüber weder in Regensburg noch in Fürth gibt. Bei der Rekonstruktion der damaligen Organisation half ein altes Vereinsheft der Spielvereinigung, das sich im Fürther Stadtmuseum fand und so nebenbei in einem einzigen Satz auf die „von einigen Fürther Firmen großzügig durchgeführte Übertragung“ hinwies. Mit Bleistift hatte darüber jemand „Hofmann+Wagner“ gekritzelt. So führte die Spur 2012 zu dem inzwischen fast 90-jährigen Georg Wagner.
Die einzige Chance, diese nicht nur für Fürth interessante Geschichte noch genauer dokumentieren zu können, besteht darin, weitere Zeitzeugen zu finden. Dabei wären nicht nur Berichte von Leuten, die die Übertragungen vor Ort miterlebt haben, sehr hilfreich, sondern auch Informationen von ehemaligen Fernmeldetechnikern der Post. Sie schalteten damals die Kabelverbindungen zur Fernsprechvermittlungsstelle am Fürther Hauptbahnhof, von wo das Signal schließlich auf die Telefonleitungen zu den einzelnen Gaststätten verteilt worden ist. Es könnten sich aber auch Unterlagen aus den früheren Gastwirtschaften finden oder sogar Bilder in privaten Fotoalben.
Wer bei der Recherche weiterhelfen kann, wird gebeten, sich entweder an unsere Redaktion, fn-redaktion@presenetz.de, Telefon (0911) 7798730, oder direkt an den Autor unter der E-Mail-Adresse siegfried.kett@t-online.de zu wenden.
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