Wenn die Schlampe auf die Meze trifft

Marianne Natalis

Altmühl-Bote

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15.6.2019, 05:06 Uhr
Wenn die Schlampe auf die Meze trifft

© Foto: Marianne Natalis

Sie rotzen und spucken herum, markieren den großen Macker, rücken ständig ihr Gemächt zurecht und tatschen den Mädels auf den Po. "Fick disch, du Schlampe!" ist noch das harmloseste, was sie ihrer Lehrerin an den Kopf werfen. Diese Klasse ist ein Albtraum, das sieht man auf den ersten Blick.

Diesen undisziplinierten Haufen zu bändigen, ist die undankbare Aufgabe von Sonia Kelich im diesjährigen Eröffnungsstück "Verrücktes Blut" der Altmühsee-Festspiele in Muhr am See. Friedrich Schiller und seine freiheitlichen Ideen stehen an diesem Projekttag auf dem Stundenplan.

Vor 15 Jahren gingen die Theatertage in Muhr an den Start. Schillers "Die Räuber" war das erste Stück auf der damals nagelneuen Bühne im Hof des Altmühlsee-Informationszentrums. Zum kleinen Jubiläum gibt es nun ein Wiedersehen mit Franz und Karl Mohr – allerdings kommt der Klassiker des Sturm und Drangs in völlig neuen Gewändern daher.

Renitent bis zum Gehtnichtmehr ignorieren die Schüler ihre Lehrerin komplett. Während Sonia Kelich (großartig: Christina Schmiedel) ihnen vom Konflikt "einer nach Freiheit strebenden Jugend" mit den aktuellen Verhältnissen als Ausgangspunkt dieser literarischen Epoche erzählt, machen Musa (Yasmani Stambader), Bastian (Xiduo Zhao), Hakim (Leandro Villar Guerrero) und Ferit (Schamsuddin Ashraf) einen auf dicke Eier. Während Frau Kelich von der "Stimme des Volkes" berichtet, zieht Mariam (Marina Massidda) Latifa (Souhaila Amade) an den Haaren über die Bühne, während die Lehrerin auf die kaputte Familie Mohr zu sprechen kommt, mobbt die Klasse den verdrucksten Hasan (Younes Tissinte).

Da plötzlich reißt der Lehrerin die Geduld, sie nimmt Musa die Tasche weg, es gibt ein Gerangel – und eine Pistole fällt zu Boden. Gewalt erzeugt immer Gegengewalt, ist eine der Lebensweisheiten, die Sonia Kelich ihren Schülern vermitteln will. Und doch greift die kleine, zerbrechlich wirkende Frau nun zur Waffe, um ihrer außer Rand und Band geratenen Klasse Schillers Idee von einer ästhetischen Erziehung zu vermitteln.

Das schöne Wort "Vernumft"

Mit vorgehaltener Pistole zwingt sie den Schüler die gelben Reclamhefte in die Hände. Schauderhaft hören sich die ersten Rezitierversuche der Jugendlichen in ihrem Stammeldeutsch an. Ein "ch" kommt ihnen nicht über die Lippen, die "Vernumft" und das "samftmütige Lamm" stoßen Sonia Kelich besonders bitter auf. Sie schreit, sie tobt, sie bettelt und fleht, denn "wie soll man euch nicht für wilde Affen halten", wenn sie nicht einmal das schöne Wort Vernunft fehlerfrei aussprechen können.

Wenn die Schlampe auf die Meze trifft

© Foto: Marianne Natalis

 "Wie kann der Mensch dazu gebracht werden, verantwortlich mit seiner Freiheit umzugehen?" Diese Frage, die sich Schiller am Vorabend der französischen Revolution stellte, ist aktueller denn je, das weiß auch Frau Kelich angesichts dieser bildungsfernen Jugendlichen, die ihre Lehrerin zwar gerne als Hure beschimpfen, aber keine Ahnung haben, was es mit der "Meze" bei Schillers Räubern auf sich hat.

Es sind teilweise die alleruntersten Schubladen, die dort auf der Bühne – teils augenzwinkernd – aufgezogen werden. Ein Vorurteil jagt das nächste Klischee, Political Correctness sucht man vergebens.

Dabei ist es doch gerade das große Anliegen von Sonia Kelich, ihre Schüler zu selbstbewussten und eigenverantwortlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu formen. Sie will, dass sie die ganze Bandbreite der Möglichkeiten, die dieses Land zu bieten hat ausschöpfen können. "Nutzt doch diese Chance", ruft sie ihren Schülern zu.

Wunderbar zu sehen, wie der Schillersche Spiegel, den Kelich ihren Schülern vorhält, immer mehr greift. Die jungen Schauspieler – allesamt selbst mit Migrationshintergrund – setzen die Wandlungen, die ihre Protagonisten nach und nach vollziehen, unter der Regie von Phillip Jescheck perfekt in Szene. Mehr und mehr schlüpfen die Schüler – wenn auch gezwungenermaßen – in die ihnen zugedachten Rollen, mehr und mehr identifizieren sie sich mit Karl oder Franz, Luise oder Ferdinand (aus "Kabale und Liebe") und entledigen sich so gleichzeitig dem engen Korsett aus Traditionen und Vorurteilen dem sie selbst verhaftet sind.

Von der Komödie bis zum gesellschaftlichen Drama bietet "Verrücktes Blut" die ganze Bandbreite eines unterhaltsamen Theaterabends, der den Zuschauern am Ende dank ein paar unerwarteten Wendungen auch noch einiges zum Nachdenken mit auf den Nachhauseweg gibt. Bestnoten gibt es durch die Bank für die Schauspieler, entsprechend nimmt der Schlussapplaus fast kein Ende.

Intendant Harald Molocher hatte in seinen kurzen Eröffnungsworten seine Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass die Premierengäste "das Stück in die Welt tragen" und entsprechend Werbung dafür machen. Dem kommt man bei dieser ganz besonderen Doppelschulstunde gerne nach.

Info"Verrücktes Blut" ist noch am Sonntag, 23. Juni, Donnerstag, 4. Juli, Sonntag, 14. Juli, und Donnerstag, 18. Juli, jeweils um 20 Uhr zu sehen. Karten gibt es unter anderem in der Geschäftsstelle des Altmühl-Boten.

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