Kretschmann: Wenn der Vulkan aus dem Ländle ausbricht

Harald Baumer

Berlin-Korrespondent der NN

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12.3.2021, 18:38 Uhr

Wenn Winfried Kretschmann öffentlich auftritt - in Interviews, bei Pressekonferenzen nach den Corona-Gipfeln, in Talkshows -, dann schaut auch sein engstes Umfeld höchst interessiert und durchaus ein wenig aufgeregt zu. Denn beim Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg weiß man nie so genau. Er ist ein Mann, der sich nicht auf Sprachregelungen festlegen lässt, die für ihn vorformuliert wurden. In dem grauhaarigen Mann mit seinem aufreizend langsam vorgetragenen Honoratiorenschwäbisch schlummert ein Vulkan.

Er bricht, wie das Vulkane nun mal so tun, in schwer berechenbaren Abständen aus. Eine der jüngsten Eruptionen ereignete sich vor ein paar Wochen in der Sendung von Markus Lanz. Es ging um die Uneinigkeiten der Ministerpräsidenten bei der Bekämpfung der Pandemie. Da brodelte es bereits erkennbar beim zugeschalteten Winfried Kretschmann. "Man muss doch nicht bei jeder kleinen Abweichung so tun, als seien da Schurken am Werk", platzte es aus ihm heraus. "Ich weiß nicht, warum man das so aufbauscht", schob er hinterher. Der Moderator schmunzelte. Er wusste, was er an seinem Gast hat.

Belege für die Eigenwilligkeit des Landesvaters gibt es in Hülle und Fülle. Mal nennt er strafrechtlich auffällig gewordene junge männliche Flüchtlinge - politisch völlig unkorrekt - "Tunichtgute". Mal kündigt er zum Entsetzen vieler Lehrer(innen) und Eltern an, dass wegen Corona die Sommerferien in Baden-Württemberg gekürzt werden könnten. Und dann lässt er, nicht unbedingt zum Wohlgefallen aller Grünen, wissen, dass er regelmäßig für die politische Konkurrentin Angela Merkel bete.

Er redet gerne über "Schöpfung", "Heimat" und "Religion"

Eine Rechts-Links-Systematik ist dabei nicht erkennbar. Seine Bundespartei gilt zwar manchen als ein Teil des linken Lagers in Deutschland - und er teilt auch viele Gedanken der Grünen. Aber das hindert ihn nicht daran, ein erfolgreiches Buch darüber zu schreiben, dass er sich als einen wahren Konservativen betrachte. In dem Werk tauchen Begriffe wie "Schöpfung", "Religion", "Heimat" und "Familie" an zentraler Stelle auf, was manchen im Kreuzberger Grünen-Milieu den Schweiß auf die Stirn treiben dürfte.

Der frühere Nürnberger Bürgermeister Klaus-Peter Murawski (71) ist nicht nur Parteifreund und beinahe Altersgenosse von Kretschmann, er dürfte auch einer der Menschen außerhalb der Familie sein, die ihn am besten kennen. Anfang der 80er Jahre hatten sie sich kennengelernt, zwischen 2011 und 2018 war Murawski als Staatskanzleichef der wichtigste politische Vertraute und der lautlose Organisator seiner Politik.

Der Ruheständler sagt heute "Ich habe selten einen Menschen wie ihn erlebt, der die Dinge immer so vorträgt, wie er sie sieht." Das heiße nicht, dass er sich nicht auch mal zurückhalte. Aber grundsätzlich gelte: "Er denkt eben immer nur an die Problemlösung." Da sei es vergeblich, ihn in irgendeine Richtung briefen zu wollen, wenn er inhaltlich Zweifel daran habe.

Fast 60 Jahre waren alle Ministerpräsidenten "schwarz"

Winfried Kretschmann ist seit zehn Jahren der erste und bisher einzige grüne Regierungschef in Deutschland. Und das in einem Land, das kaum schwärzer sein könnte. 57 Jahre lang regierten hier ununterbrochen CDU-Ministerpräsidenten, 20 Jahre davon sogar mit einer absoluten Mehrheit. Es muss wohl als eines der politischen Meisterstücke der Nachkriegszeit betrachtet werden, was dem früheren Lehrer Kretschmann 2011 im Ländle gelang.

Drei Faktoren gelten als entscheidend für den Machtwechsel. Erstens: Die CDU hatte sich heillos zerstritten, die harten Polizeieinsätze rund um Stuttgart 21 entsetzten die bürgerliche Klientel und Regierungschef Stefan Mappus galt als hochgradig unbeliebt. Zweitens: Die politische Großwetterlage deutete klar in Richtung Grün. Zwei Wochen vor der Wahl ereignete sich dann auch noch die Atomkatastrophe von Fukushima. Als dritter Faktor reicht ein Wort: Kretschmann.

Nicht jeder x-beliebige Grüne hätte trotz günstiger Voraussetzungen gewinnen können. Es brauchte schon einen, der so tief im schwäbischen Naturell verwurzelt ist und so bürgerlich-bescheiden auftreten kann wie der damalige Fraktionsvorsitzende. Klaus-Peter Murawski erinnert sich an einen Kabinettsausflug in eine schwäbische Barockkirche. Der Chef referierte auswendig über Architektur und künstlerische Motive.

Selbst die CDU-Anhänger wünschen sich Kretschmann

Die CDU hat dem nichts entgegenzuhalten. Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann gilt zwar als patent, kampfeslustig und volksnah. Sie hatte aber das in Corona-Zeiten nicht gerade dankbare Schulministerium zu verwalten, in dem man es mindestens immer einer Hälfte der Lehrer und Eltern nicht recht machen kann. Der vernichtendste Wert aus den Umfragen: Selbst zwei Drittel der CDU-Anhänger wünschen sich einen Ministerpräsidenten Kretschmann.

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