Als das Nürnberger Rathaus seinen Turm bekam

7.12.2020, 21:11 Uhr
Als das Nürnberger Rathaus seinen Turm bekam

© Foto: Sebastian Gulden

Erfahrungsgemäß ist nicht jeder Mensch ein Freund des Winters. Aber mal Hand aufs Herz: Die "Blaue Stunde", wenn der spätnachmittägliche Himmel in tiefes Blau getaucht ist und die weiße Pracht sanft von Bäumen, Straßen und Dächern schimmert, ist ein Fest für die Sinne. Dessen war sich auch Friedrich Wilhelm Jahn bewusst, als er um 1898 eine Aufnahme des Kleinen Rathaushofes mit Blick auf den Ostflügel des Nürnberger Rathauses, den so genannten "Essenweinbau", machte.

Als das Nürnberger Rathaus seinen Turm bekam

© Foto: unbekannt (Sammlung Frederic Knopf)

Wie ein verwunschenes Märchenschloss steht es da, das Gebäude mit seinem reichen neugotischen Zierrat, seinen Erkertürmchen und Treppengiebeln. Hinter dem gewaltigen Satteldach ragt eine Turmspitze in den winterlichen Vorabendhimmel. Das ist der Rathausturm, der erste und einzige Turm, den unser Rathaus je besaß (abgesehen von den Aufbauten auf dem Westflügel und dem Pylippbau am Fünferplatz, bei denen es sich aber nicht um Türme, sondern um Zwerchhäuser bzw. einen Dachreiter handelt bzw. handelte).

Fensterrahmungen wie in der Bretagne

August von Essenwein, Architekt und Erster Vorstand des Germanischen Nationalmuseums, war es, der Nürnberg 1885–1889 den Rathausturm schenkte – und natürlich die zugehörige Erweiterung, die unter anderem ein Polizeirevier, das Schulamt und die Städtische Kunstgalerie beherbergte. Für seine Schöpfung griff er tief in die Trickkiste der Architekturgeschichte. Für ihn als belesenen Kunsthistoriker, der weite Teile Europas bereist und deren Kunstschätze studiert und gezeichnet hatte, war es Ehre und oberste Pflicht zugleich, des "Reiches Schatzkästlein" um ein Bauwerk zu bereichern, dass den einmaligen Qualitäten des historischen Stadtbildes Rechnung trug. Von zwei Bürgerhäusern, die sich an Stelle des Rathausneubaus erhoben, ließ Essenwein immerhin die Fassaden stehen, um dem Komplex nach außen hin eine malerische, historisch gewachsene Anmutung zu verleihen.

Wie bei vielen seiner Bauten war Essenweins Wunsch, den originalen Schöpfungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit nahe zu kommen, bisweilen so groß, dass der einige Details fast unverändert kopierte oder sich zumindest sehr, sehr eng an die Vorbilder hielt. So zitierte Essenwein beim Entwurf der Hoffront Fensterrahmungen des Schlosses Josselin in der Bretagne. Die Bekrönung des Turmes am Fünferplatz wiederum ist offensichtlich von den Prager Rathäusern inspiriert.

Als das Nürnberger Rathaus seinen Turm bekam

© Foto: unbekannt (Sammlung Frederic Knopf)

Unsere zweite historische Aufnahme zeigt die Fassaden des Essenweinbaus zum Fünferplatz, auf dem sich die volle Pracht dieses Turmes entfaltet. Hier erkennt man auch ein paar Zitate Alt-Nürnberger Baukunst, darunter den kunstvoll durchbrochenen Giebel (nach Vorbild des Toplerhauses) und die beiden Chörlein. Einer davon ist eine direkte Kopie eines historischen Erkers: Der hätte eigentlich im Original am Rathausneubau angebracht werden sollen, brach aber während der Abbrucharbeiten herunter. Essenwein, dem Tobsuchtsanfall nahe, verdonnerte Bauunternehmer Bernhard Hoffmann daraufhin, die Kosten für den Nachbau des Chörleins aus eigener Tasche zu berappen.

Nürnberger liebten den Turm

Die Vollendung seines Rathauses überlebte Essenwein nur um wenige Jahre: Er starb 1892 an einem Schlaganfall – wie sein Arzt mutmaßte als Folge jahrzehntelanger Überarbeitung. So blieb dem – gleichwohl eher bescheidenen – Architekten wenig Zeit, die Früchte seiner Arbeit zu ernten. Denn die Nürnbergerinnen und Nürnberger liebten ihr neues Rathaus und seinen Turm. Zahllose Fotografien, Aquarelle und selbst Bierkrüge trugen fortan das Konterfei des neugotischen Charakterkopfes.

Als das Nürnberger Rathaus seinen Turm bekam

© Foto: Birnbaum & Rehbock (Sammlung Sebastian Gulden)

Umso mehr befremdet es, dass von dem gelobten Bau heute rein gar nichts mehr vorhanden ist. Das hatte, soweit es sich rekonstruieren lässt, zwei entscheidende Gründe: Zum einen hatte es die gleichgestaltete Architekturtheorie der Nazis fertiggebracht, die Ablehnung der verschwenderischen Baukunst der Kaiserzeit in breiten Teilen der Bevölkerung zu zementieren und als Kitsch zu brandmarken. Zum anderen hatte sich die Stadtspitze in den Kopf gesetzt, die zugegebenermaßen ziemlich scharfe Kurve, die Straßenbahn und Autos an dieser Stelle nehmen mussten, großzügig auszubauen.

Für diesen Plan leistete man sich den Stunt, den fast völlig zerstörten Wolff’schen Rathausflügel um zwei Fensterachsen zu verkürzen, sodass die Theresienstraße um ein paar Meter breiter wurde. Blöderweise standen dann aber immer noch der Essenwein’sche Rathausbau und seine Verbindungsbrücke zur Wallraff’schen Rathauserweiterung gegenüber im Weg. Seine Ruinen mussten 1961 weichen. Ein trauriges Ende für eines der bedeutendsten Denkmale, die der Historismus in Nürnberg hinterlassen hatte. Auch abseits (kunst-)historischer Erwägungen hat sich das Ganze nicht so recht gelohnt: Die Straßenbahntrasse durch die Sebalder Altstadt wurde noch in den Nachkriegsjahren aufgegeben, und auch der Autoverkehr hält sich heute an dieser Stelle dank Verkehrsberuhigung in Grenzen.

Ersatzbau heute auch historisch

Als das Nürnberger Rathaus seinen Turm bekam

© Foto: Birnbaum & Rehbock (Sammlung Sebastian Gulden)

Stadtbaurat Heinz Schmeißner ersetzte den Nordflügel des barocken Rathauses und den Essenweinbau bis 1963 durch einen Neubau, der – und das ist schon ironisch – im Äußeren die Formen des Wolff’schen Baus kopiert. Im Inneren dagegen ist er ein stilreines Kind der Wirtschaftswunderzeit, noch dazu ein ausgesprochen gelungenes mit einer fast vollständig erhaltenen bauzeitlichen Ausstattung.

So ist die winterliche Aussicht auf den Rathaushof zur Blauen Stunde heute eine gänzlich andere, ein Blick in die Nachkriegsmoderne, die heute selbst schon wieder historisch ist. Schade nur, dass der Schnee nicht mehr so zuverlässig fällt wie anno 1898.

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